Damit ist eine widersprüchliche Situation entstanden, in der vieles, obschon unzureichend untersucht, dennoch als Leistung wirkmächtig gewünscht und gefordert wird. Eine einfache Aufnahme in das Leistungsangebot ist dann allenfalls mit „schlechtem Gewissen“ zu erreichen und unter nicht entkräfteter Kritik. Oder eine Nicht-Aufnahme von so geforderten Leistungen führt zu einer mehr oder minder dauerhaften Unzufriedenheit bei denjenigen, die sich Hoffnungen machen oder auch handfeste Interessen mit der Aufnahme von Leistungen verfolgen. Den faktischen Entscheidungen droht dann – so oder so – eine fehlende Legitimität. All dies resultiert auch daraus, dass weitere Forschungen und benötigte Erkenntnisse nicht von allein entstehen. Gravierende Problematiken der einschlägigen Wissenschaften, z. B. Diskussionen über die Verschwendung in den Wissenschaften [4] oder, konträr dazu, über nach wie vor bestehende Defizite in der Veröffentlichung von Studienergebnissen [5] sowie Verweise auf eine fehlende „Studienkultur“ gerade in Deutschland [6, 7] sind wesentliche Problemaspekte. Auch die nach wie vor bestehenden Defizite der Regulierung bzw. des Marktzugangs bestehen zum Teil fort – jedenfalls sind Erfolge nicht gesichert, oder es tun sich neue Unsicherheiten auf [8], [9]. Damit ist auch kaum zu erwarten, dass die nötigen Erkenntnisse zukünftig immer schon vorliegen, wenn Produkte oder Leistungen erstmals angeboten werden.
Statt auf weitere Ergebnisse zu warten, von denen oft befürchtet werden muss, dass es diese niemals geben wird, scheint mit der Schaffung von „Sonderbereichen“ ein geradezu idealer Ausweg aus dem wahrgenommenen Dilemma einer Aufnahme oder Nicht-Aufnahme neuer Leistungen bei unbefriedigender Erkenntnislage gewiesen: Man besorgt sich diese Erkenntnis selbst, oder schreibt deren Besorgung vor. Ähnliche Ansätze wurden oder werden zum Teil auch in anderen Gesundheitssystemen verfolgt [10], [11], sind aber international auch nicht durchgängig als Erfolgsgeschichte zu beschreiben [12]. Es klafft eine deutliche Lücke zwischen der elegant scheinenden theoretischen Lösung und der doch deutlich zurückbleibenden Praxis [10]. Zur Vorsicht rät hier auch, dass einmal eingeführte Leistungen, selbst bei sehr fraglicher Tauglichkeit, nur sehr schwer wieder aufzugeben sind [13].
Kriterien zur Akzeptanz
Lässt sich so auf die geschilderte Weise zwar manches erklären und begründen, so ist dies noch keine Rechtfertigung für eine GKV-Finanzierung von Leistungen unsicheren Nutzens. Es kommt wesentlich auf die Alternativen an. Eine vorübergehende Leistungserbringung scheint allenfalls diskutabel, wenn die Aufnahme einer neuen Leistung aus welchen Gründen auch immer „zwingend“ erscheint und die noch schlechtere Alternative darstellt.
Dies muss sicher nicht so sein, aber es war in der Vergangenheit eher die Regel, dass neue Leistungen aufgenommen wurden, obwohl diese durch nicht oder noch kaum bestehende Bewertungsverfahren gar nicht erfasst wurden und vielleicht auch deshalb noch lange Probleme der Über- und Fehlversorgung bedingen [1]. Bei der Magnetresonanztomographie, den Koronarstents, kardialen Implantaten u. a. liegen jedenfalls keine systematischen Bewertungen in Bezug auf die Frage vor, ob und unter welchen Bedingungen diese als GKV‑Leistungen geeignet seien. Ähnliches kann auch zukünftig immer wieder vorkommen, wenn weitere Erkenntnisse ausbleiben, die Versprechen und Hoffnungen aber bleiben und an Produktvermarktung und Leistungserbringung Interessierte sich durchsetzen. Demgegenüber sind vermutlich auch Verfahren einer „begleiteten Einführung“ zu bevorzugen, wenn auch die initiale und kritische Bewertung die Regel bleiben muss – und besondere Fälle gegenüber dieser Regel gerechtfertigt werden müssen. Wirklich erhaltenswert sind die „Sonderbereiche“ aber auch nur dann, wenn die zureichende Erforschung und Ausweisung der Ergebnisse nicht vorab von anderen verlangt und erwartet werden kann.
Im Ergebnis der hier angestellten Analysen sind also mehrere Kriterien bei der Bewertung der Sonderbereiche ausschlaggebend, und zwar, ob
1. die Verantwortlichkeiten insbesondere zur weiteren Erforschung und deren Finanzierung richtig zugeordnet werden, ob
2. die notwendigen Ergebnisse weiterer Forschung und Evaluation gewonnen werden, denen entsprechend dann auch entschieden wird und, ob
3. im Rahmen der vorläufigen Aufnahme die damit entstehende Versorgung auch bestmöglich zur Erkenntnisgewinnung beiträgt.
Von der Erfüllung dieser drei Kriterien hängt ab, ob die „Sonderbereiche“ als erhaltenswert erscheinen und in Zukunft weitere solcher Sonderbereiche neu geschaffen werden sollten, oder ob auf solche Sonderbereiche besser verzichtet würde. Nicht zuletzt ermöglicht die Nutzung der Kriterien auch eine Bewertung, wie bestehende Regelungen weiterentwickelt werden sollten. Zu den Kriterien im Einzelnen:
1. Es ist zunächst einmal das Kriterium zu erfüllen, dass Dritte nicht primär verantwortlich sind für die weitere Erforschung. Dieses ist für die vorläufig aufgenommenen DiGA insofern erfüllt, als dass die Hersteller die Studien zum Zeitpunkt der Aufnahme zwar noch nicht vorgelegt haben, diese aber während der Erprobungszeit finanzieren. Für die Erprobungsstudien zu neuen Methoden ist dieses Kriterium in keiner Weise erfüllt, denn nicht nur liegen die Studien ja jeweils noch nicht vor. Sie werden auch nicht von den Herstellern auf eigene Kosten durchgeführt. Die Kosten müssen vielmehr die Versicherten tragen. Dies ist somit eine besonders eklatante Nicht-Erfüllung dieses Kriteriums. Dieser Zustand wurde ganz bewusst auch erst im Rahmen von Gesetzesnovellen geschaffen. Bei Einführung der Erprobungsregelung waren zunächst ganz richtig die Hersteller zur Tragung der Kosten der Erprobungsstudie verpflichtet. Mit Verweis auf die Belastungen für Unternehmen wurde dies jedoch 2019 geändert, da sich Hersteller an der Finanzierung der Studien komplett desinteressiert gezeigt hatten. Es handelt sich gemäß aktueller Gesetzeslage somit um eine inakzeptable Subventionierung vorwiegend von Medizinprodukteherstellern, die zu einem „Boom“ fraglich versorgungsrelevanter Studien beigetragen hat [14] (s. a. Videobeitrag in der vorliegenden Ausgabe). Beim Modellvorhaben zur Genomsequenzierung dürften die Kosten zur weiteren Erkenntnisgewinnung, getragen durch die GKV, über die Leistungsvergütungen hinaus vergleichsweise gering sein. Gegenwärtig wird noch darum gerungen, methodisch belastbare Nutzenerkenntnisse gewinnen zu können. Bei Förderungen im Innovationsfonds erscheint die Kostenübernahme der Forschungs- bzw. Evaluationskosten am ehesten gerechtfertigt, insbesondere da hier Dritte im Sinne von Herstellern und Anbietern zunächst eine nachgeordnete Rolle spielen und „Produktförderung“ ausgeschlossen sein soll. Dass Produkte und Leistungen kommerzieller Unternehmen hier mitunter dennoch vergütet werden, erscheint allerdings ebenfalls kritisch. Ebenso kritisch ist die oft fehlende Abgrenzung zu Aufgaben der öffentlichen Hand, insbesondere in der Forschungsfinanzierung – jedenfalls dann, wenn eine klare Fokussierung auf bekannte Probleme der GKV‑Versorgung und ein klarer Nutzungszusammenhang fehlen [15].
2. Als zweites wesentliches Kriterium ist anzusehen, welche Leistungen überhaupt Gegenstand sind oder werden können, wer dies bestimmt, welche Erkenntnisse jeweils fehlen und auf welche Weise sie gewonnen werden sollten. Grundsätzlich sollte es die Aufgabe der (gemeinsamen) Selbstverwaltung sein, den Leistungsumfang der GKV zu bestimmen. Gesetzgeberische Aktivitäten sollten zur Stärkung und nicht zur Aushöhlung dieser Aufgabe führen. (Das Modellvorhaben Genomsequenzierung bildet hier insofern eine Ausnahme, da es im Unterschied zu den anderen „Sonderbereichen“ nicht die Etablierung eines Bewertungsregimes für eine grundsätzliche und potenziell unabgeschlossene Zahl einzelner Leistung realisiert, sondern eher als im Rahmen eines Modellvorhabens geschaffene Leistungsmöglichkeit auch im Sinne einer Strukturentwicklung angesehen werden kann. Ein Indiz hierfür ist auch die Verortung als Modellvorhaben, d. h. unter Fortschreibung einer schon sehr viel länger bestehende Rechtsgrundlage.) Die Bewertung von DiGA und auch die Entscheidung über eine nur vorläufige Aufnahme werden von einer staatlichen Stelle (BfArM) getroffen, die zugleich auch ärztliche Leistungen definieren kann. Dies ist ausgesprochen fragwürdig [2]. Das Konzept der vorläufigen Aufnahme erscheint insgesamt nicht gut begründet, denn es wird ja ohnehin nach i. d. R. zwölf, spätestens 24 Monaten eine Entscheidung zur dauerhaften Aufnahme getroffen. In ähnlicher Weise bleibt auch der Innovationsausschuss mit Stimmrechten für Bundesministerien kritikwürdig. Zudem sind fragwürdige Themensetzungsbefugnisse durch den Bund im Gesetz verankert und die Rahmenbedingungen für die Förderung wurden zunehmend gesetzlich ausdifferenziert. Die Auswahl von Themen und Projekten sowie die Beiträge zur Umsetzung von Ergebnissen beschreiben ein heterogenes und schwieriges Feld [16]. In Bezug auf die Erprobung von Methoden ist der G-BA plausibel beauftragt. Die gesetzlichen Grundlagen schränken aber die Möglichkeiten hier zu sehr ein, da dem G-BA in vielen Fällen keine andere Wahl gelassen wird, als Erprobungsstudien zu initiieren, auch wenn die zu erprobenden Methoden eher hersteller- als versorgungsrelevant sind.
3. Als drittes nicht weniger wichtiges Kriterium ist zu formulieren, dass die Leistungserbringung in den „Sonderbereichen“ jeweils entscheidend und umfassend dazu beiträgt, dass die Studien und Erhebungen im Sinne der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung auch Erfolg haben. Auch wenn grundsätzlich nichts dagegenspricht, kontrollierte klinische Studien auch dann noch durchzuführen, wenn die Leistung bereits außerhalb solcher Studien verfügbar ist[17], so sind doch hier auch in der Vergangenheit erhebliche Probleme aufgetreten [18], [19]. Studien konnten nicht realisiert werden und die Leistung wurde dennoch aufgenommen oder blieb umfasst. Ähnliche Probleme drohen auch Studien zur Erprobung neuer Methoden generell, mindestens dann, wenn es sich um Studien im Krankenhausbereich handelt. Hier ist es an der Zeit, dafür zu sorgen, dass die Methoden nur im Rahmen der Studien angewandt werden, deren Eckpunkte durch den G-BA zu bestimmen wären [14]. Eine solche Lösung würde auch eher eine ggf. angemessene Rücknahme der Leistungen ermöglich, was sich sonst als sehr schwierig erweist. Auch für die DiGA, die nur vorübergehend aufgenommen werden, wäre umsetzbar, dass die Leistungserbringung solange nur in Studien erfolgt, bis deren Nutzen ggf. bestätigt werden kann – was allerdings zeigte, dass die Regelung der vorläufigen Aufnahme insgesamt überflüssig scheint – denn die dauerhafte Aufnahme setzt ja auch heute voraus, dass die Ergebnisse von Studien vorgelegt werden. Bei Projekten des Innovationsfonds und bei der Genomsequenzierung tragen grundsätzlich alle Teilnehmenden zur Erkenntnisgewinnung bei. Insgesamt ist auffällig, dass eine Leistungserbringung außerhalb von Studien und Erhebungen gerade in den Bereichen möglich gemacht wird, in denen Produkte immer oder häufig im Mittelpunkt stehen. Dass eine Leistungserbringung möglich ist, die keinen Beitrag zur Erkenntnisgewinnung leistet, widerspricht aber dem wesentlichen Grundsatz, dass diese eben (nur oder vor allem) zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse existiert und andernfalls kaum zu rechtfertigen ist.
Fazit
Inwieweit die hier beschriebenen Kriterien derzeit oder künftig durch gesetzgeberische Korrekturen erfüllt werden und ob die „Sonderbereiche“ als Erfolg gesehen werden können, ist gegenwärtig anhand der vorliegenden Ergebnisse erst eingeschränkt zu beurteilen. Bisher wurde keine der laufenden Erprobungsstudien (hier gab es Beendigungen nur durch Abbrüche) abgeschlossen. Einige Streichungen nur vorläufig aufgenommener DiGA sind zu verzeichnen. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass DiGA sehr niedrigschwellig überwiegend zunächst nur vorläufig aufgenommen werden [20]. In Bezug auf abgeschlossene Projekte des Innovationsfonds resultiert ein heterogenes Bild [16], in dem die unmittelbare Bedeutung geförderter Projekte für Veränderungen von Versorgung oft undeutlich bleibt. Das Modellvorhaben Genomsequenzierung ist noch in der Anlaufphase. Ergebnisse der Evaluation werden erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung stehen.
Einige deutliche Verbesserungsmöglichkeiten auf Grundlage der dargestellten Kriterien liegen bereits auf der Hand. Kommt es hier nicht auf der Grundlage einer ehrlichen Analyse zu Verbesserungen und zur Entwicklung einheitlicher Grundsätze anhand der wichtigen Kriterien, dann wären solche Bereiche in vielen Fällen obsolet und die Arbeit an und in ihnen sollte entsprechend beendet werden.
Die aktuelle gesundheitspolitische Debatte ist geprägt von der Gleichzeitigkeit zweier Tendenzen, deren Verhältnis zueinander nicht offen diskutiert wird: Einerseits von der Erkenntnis, dass Strukturreformen dringend notwendig sind, um das derzeitige hohe Leistungsniveau und dessen Zugänglichkeit aufrecht erhalten zu können. Andererseits von der postulierten fortgesetzten Innovationsoffenheit auch bei unsicherem Nutzen der neuen Angebote, selbst wenn die Kosten sehr hoch sind. Unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem dürfte jedenfalls nur dann finanzierbar bleiben, wenn auch die „Sonderbereiche“ zunehmend Beiträge zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Versorgung erbringen. Wenn dies nicht gelingt und sie im Ergebnis vor allem zur Rechtfertigung hoher Mehrausgaben bei fraglichem Nutzen dienen, wird allein aus ökonomischen Gründen eine wesentlich zielgenauere Fassung dieser Bereiche notwendig werden.