Arzneimittel

Autorenbeitrag von Dr. Karl Sydow

Das eRezept

Was wir aus gescheiterten Digitalisierungsversuchen lernen sollten

Oktober 2019

Das eRezept kommt. Spätestens bis zum 1. Januar 2006 sollten die Ärzteschaft und die Krankenkassen die hierfür notwendigen Voraussetzungen unter den technischen Vorgaben der gematik vereinbart haben. So sah es das GKV-Modernisierungsgesetz mit Inkrafttreten im Januar 2004 vor. Dieser Digitalisierungsversuch scheiterte und das Bundesgesundheitsministerium will mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) die schrittweise Einführung des eRezepts mehr als ein Jahrzehnt nach dem ersten Versuch durchsetzen. Wie kann das eRezept unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen aussehen? Was wird sich für den Versicherten ändern? Aus welchen Fehlern sollte man für eine erfolgreiche Umsetzung des eRezepts in den kommenden Jahren lernen?

Inhalt

Fast jeder gesetzlich Versicherte hat es schon einmal in seiner Hand gehabt. Das sogenannte rosafarbene Rezept, auch Arzneiverordnungsblatt (Muster 16) genannt, wird pro Monat ca. 40 Millionen mal in Apotheken eingereicht. Der Apotheker versorgt die Versicherte mit dem verordneten Arzneimittel und rechnet anschließend die Kosten hierfür mit der Krankenkasse ab. Für Versicherte ist das Rezept in erster Linie die Berechtigung, im Rahmen des Sachleistungsprinzips ein Arzneimittel ausgehändigt zu bekommen. Für Apothekerinnen und Apotheker dient es als Nachweis gegenüber der Krankenkasse, die Kosten für das abgegebene Arzneimittel in Rechnung stellen zu können. Die Krankenkasse wiederum benötigt das Rezept neben anderen Funktionen ggf. als Beleg für das Bundesversicherungsamt, um Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Die aufeinander aufbauenden und ineinandergreifenden Prozesse rund um das Rezept müssen daher äußerst effizient und zuverlässig sein. Es geht nicht zuletzt um einen Bruttoumsatz von 45,7 Milliarden Euro im Jahr 2018 (www.gkv-gamsi.de). Veränderungen am Arzneimittelabrechnungsgeschehen benötigen daher regelhaft eine Vorlaufzeit, um fehlerfrei implementiert werden zu können.

Mit dem GSAV sollen die Hauptbeteiligten am eRezept, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der Deutsche Apothekerverband und der GKV-Spitzenverband, bundeseinheitliche Rahmenvorgaben für dessen Umsetzung innerhalb von sieben Monaten schaffen. Die gematik, in der die Beteiligten Gesellschafter sind, soll bis Mitte 2020 die hierfür notwendigen technischen Voraussetzungen für eine eRezept-Anwendung in der Telematikinfrastruktur (TI) festlegen. Dieser Ansatz entspricht im Wesentlichen dem Gesetzesauftrag aus dem Jahr 2004, mit dem Unterschied, dass die Frist damals zwei Jahre betrug. 2004 war das eRezept als Ersatz für das Papierrezept gedacht.

Doch warum ist das eRezept vor zehn Jahren gescheitert? Das eRezept sollte damals auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gespeichert werden. Eine Bindung an die eGK hat den Nachteil, dass eine Vielzahl von Versorgungssituationen nur äußerst umständlich in die Praxis umgesetzt werden können. Hierzu zählt vor allem der Versandhandel oder die Heimversorgung, denn in diesen Fällen blieb unklar, wie das eRezept versendet wird. Hinzu kommt, dass die notwendige Hardware für Ärztinnen, Ärzte und Apotheken damals noch nicht von den Herstellern produziert wurde. Es fehlte darüber hinaus ein Konzept zur schrittweisen Einführung des eRezepts. Des Weiteren gab es in den Tests erhebliche Handlingsprobleme, weil die mehrfache PIN-Eingabe aufgrund schlechter Umsetzung in den Primärsystemen sich als nicht praktikabel erwies.

Was ersetzt eigentlich ein eRezept in der Zukunft?

Die notwendigen Digitalisierungspunkte des papiergebundenen Arzneiverordnungsvorgangs lassen sich am besten aus der heutigen Perspektive der Beteiligten erläutern:

  • Arzt
    Bevor ein Rezept ausgestellt wird, bedarf es eines Arzt-Versicherten-Kontaktes. Will die Ärztin oder der Arzt ein Arzneimittel verordnen, so muss dafür schon heute die sogenannte Verordnungssoftware benutzt werden. Das Rezept wird bedruckt und dem oder der Versicherten ausgehändigt.
  • Versicherter/Patient
    Mit dem ausgedruckten Rezept kann die bzw. der Versicherte oder auch eine von ihr bzw. ihm beauftragte Person das verordnete Arzneimittel von einer Apotheke erhalten. Der Transport bzw. die Einlösung des Rezeptes ist der einzige noch bestehende analoge Prozess in der Arzneimittelversorgung.
  • Apotheke
    In der Apotheke wird das gedruckte Rezept vom Apothekenpersonal gelesen, mithilfe der Apothekensoftware wird ein Arzneimittel ausgewählt und abgegeben. Zur Abrechnung der Rezepte muss die Apotheke diese mit zusätzlichen Preisinformationen bedrucken. Dies ist der zweite Medienwechsel von analog zu digital und wiederum zu analog. Die Rezepte eines Monats werden gesammelt und an sogenannte Apothekenrechenzentren geschickt, welche die Rezepte ein letztes Mal digitalisieren und im Auftrag der Apotheke gegenüber der Krankenkasse abrechnen.
Darstellung der notwendigen Digitalisierungspunkte des papiergebundenen Arzneiverordnungsvorgangs

Die Prozesse am Anfang (Arzt) und am Ende (Apotheke) der Arzneimittelversorgung werden bereits nahezu ausschließlich digital durchgeführt. Einzig die Übertragung des Rezeptes von Ärztin bzw. Arzt zur Apotheke ist zurzeit analog. Das „neue“ eRezept wird, wie auch 2004 vorgesehen, diesen Schritt in Zukunft ersetzen. Das eRezept wird damit den Versicherten in Zukunft eine digitale Kommunikation mit Ärztinnen, Ärzten und Apotheken ermöglichen. Diese umfasst sowohl die Arzneimittelverordnung bei Ärztin oder Arzt als auch die Bestellung von Arzneimitteln bei einer Apotheke, deren Belieferung, sowie die digitale Dokumentation und einfachere Prüfung auf Wechselwirkungen und Nebenwirkungen.

Wie kann das eRezept unter den jetzigen gesetzlichen Rahmenbedingungen funktionieren?

Mit dem GSAV vom 9. August 2019 sollen gesetzlich Versicherte mithilfe der Telematikinfrastruktur in Zukunft ihre Rezepte digital verwalten und einlösen können. Hierfür wurden im Wesentlichen drei neue Normen im Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) eingeführt:

  • Die Kassenärztliche Bundesvereinigungen (KBV) und der GKV-Spitzenverband sollen bis zum 31. März 2020 die notwendigen Regelungen für die Ärzteschaft zur Verwendung des eRezepts vereinbaren. Hierfür sollen Dienste der Telematikinfrastruktur genutzt werden, sobald diese zur Verfügung stehen, und die Regelungen müssen mit den Rahmenvorgaben für die Apothekerschaft zum eRezept vereinbar sein. Diese Vorgaben finden sich in einem neuen § 86 SGB V.
  • Im Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung (§ 129 Absatz 2 SGB V) sollen der Deutsche Apothekerverband (DAV) und der GKV-Spitzenverband alle notwendigen Regelungen für die Apothekerschaft zur Verwendung des eRezepts festlegen. Hierfür sollen wiederum Dienste der Telematikinfrastruktur genutzt werden, sobald diese zur Verfügung stehen, und die Regelungen müssen mit den Vorgaben der Ärzteschaft zum eRezept vereinbar sein.
  • Bis zum 30. Juni 2020 hat die gematik die Maßnahmen durchzuführen, die erforderlich sind, damit ein eRezept über die TI übermittelt werden kann. Dieser Datenweg soll schrittweise auf weitere Verordnungen ausgebaut werden und auch ohne direkten Kontakt zwischen (Zahn-)Ärztin oder Arzt und Versicherten in Zukunft möglich sein (§ 291a Absatz 5d SGB V).

In Anlehnung an die drei Beteiligten eines Arzneiversorgungsprozesses - Ärztin/Arzt, Versicherte/r und Apotheke - hat der Gesetzgeber ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den für das eRezept zugrundliegenden Verträgen geschaffen. Der Vertrag zwischen der Ärzteschaft und dem GKV-Spitzenverband auf der einen Seite sowie zwischen der Apothekerschaft und dem GKV-Spitzenverband auf der anderen Seite müssen explizit miteinander vereinbar sein. Beide Verträge müssen wiederum jeweils die Nutzung der Telematikinfrastruktur für die Übermittlung des eRezepts vorsehen.

Darstellung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den für das eRezept zugrunde liegenden Verträgen

Eine solche direkte Abhängigkeit zwischen zwei Leistungserbringer-Organisationen, den Kostenträgern und den Vorgaben der gematik ist eine Neuheit für die gemeinsame Selbstverwaltung. Insbesondere die vorgesehenen, relativ kurzen Fristen machen die notwendigen Vorbereitungen zum eRezept zu einer Herausforderung für alle Beteiligten. Hinzu kommt die mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) gesetzlich festgelegte 51-prozentige Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) an der gematik. Hierdurch sollen die Entscheidungsprozesse der gematik effektiver gestaltet werden können. Bereits von 2005 bis 2010 hatte das BMG auf Basis einer Rechtsverordnung die alleinige Entscheidungsgewalt bei der gematik. Dieses Vorgehen hat sich damals nicht bewährt und wurde doch später wieder geändert. Vor der Neuausrichtung der gematik mit dem TSVG waren für das eRezept die Ärzteschaft, die Apothekerschaft und die Krankenkassen, vertreten durch den GKV-Spitzenverband, die Hauptprojektbeauftragten.

Unter der Voraussetzung, dass es der gematik gelingt, zum Transport eines eRezept-Datensatzes die bestehenden stabilen Schnittstellen der digitalen Verordnungs- und Abrechnungsprozesse zu berücksichtigen sowie deren Weiterentwicklung zu ermöglichen, kann die Einführung des eRezepts auch mittelfristig gelingen.

Was wird sich für den Versicherten ändern?

Darstellung der Veränderungen für die Versicherten

Der Großteil aller regionalen oder Kassen-Pilotprojekte rund um das eRezept sieht eine Lösung in der digitalen Übertragung mithilfe eines eRezept-Servers vor. Durch einen Schlüssel, z. B. einen QR-Code, kann sich der Versicherte gegenüber dem eRezept-Server authentifizieren. So sollen in Zukunft die Versicherten anstelle des Papierrezeptes von der Ärztin oder dem Arzt diesen Schlüssel ausgehändigt bekommen. Dass dieser Schlüssel sowohl für Versicherte mit einem entsprechenden Endgerät als auch für Versicherte, die keine entsprechenden Endgeräte besitzen, zur Verfügung gestellt werden müssen, ist selbstverständlich. Entsprechende Lösungsansätze bieten die bereits seit Jahren etablierten Flug- oder Konzerttickets. Gedruckt oder in digitaler Form ermöglichen diese die notwendige Authentifizierung. Ob in Zukunft für gedruckte eRezepte bzw. die hierzu notwendigen Schlüssel weiterhin das sogenannte rosafarbene Muster 16 oder ein schlichter weißer Zettel verwendet wird, spielt dann für die Vorlage in der Apotheke keine Rolle mehr.

Der oder dem Versicherten steht mit der Einführung des eRezepts zukünftig auch eine rein digitale Verwaltung und Einlösung in der Apotheke vor Ort oder einer Versandapotheke zur Verfügung. Ob es hierfür bundesweit einheitliche Applikationen oder einen Markt unterschiedlichster eRezept-Apps geben wird, ist noch offen. Zudem gibt es zwar viele Überlegungen zu neuen Anwendungsszenarien des eRezepts, z. B. im Rahmen der Fernbehandlung oder bei der Arzneimitteltherapiesicherheit, jedoch bleiben diese bis zur konkreten Ausgestaltung und Einführung des eRezepts lediglich erahnbar.

Welches sind die Anforderungen für eine erfolgreiche Umsetzung des eRezepts in den kommenden Jahren?

Auf der Grundlage der neuen Gesellschafterstruktur und -anteile in der gematik verschiebt sich der direkte Einfluss auf die Entscheidungsprozesse zugunsten des BMG. Es bedarf weiterhin eines konstruktiven und intensiven Austausches zwischen den jetzigen Projektbeteiligten und der gematik. Nur so können die Erfahrungswerte von weit über 20 Jahren Arzneimittelversorgung zugunsten eines funktionierenden eRezepts genutzt werden.

Das eRezept für Arzneimittel ist lediglich der Wegbereiter für weitere elektronische Verordnungen z. B. von Heil- und Hilfsmitteln. Grundlegende Voraussetzungen dieser elektronischen Verordnungen müssen bereits heute in der Gestaltung des eRezepts mit bedacht werden. Die Komplexität der verschiedenen elektronischen Verordnungen auf einen Nenner zu bringen, kann nur unter der Beteiligung aller Leistungserbringer und Kostenträger der gemeinsamen Selbstverwaltung gelingen. Es muss zudem ein Konzept zur schrittweisen Einführung des eRezepts sowie einer zeitlich limitierten Geltung von Papierrezepten erarbeitet werden.

Über den Autoren

Dr. Karl Sydow

Dr. Karl Sydow, einer der Autoren des Beitrags

Dr. Karl Sydow ist Fachreferent im Referat Arzneimittel der Abteilung Arznei- und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband in Berlin.

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