Verwaltungsratsvorsitzende im Interview

"Die ge­setz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung muss auch in Zu­kunft leis­tungs­fä­hig und fi­nan­zier­bar blei­ben."

April 2022

Am 23. März 2022 wählte der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes Dr. Susanne Wagenmann zur neuen alternierenden Vorsitzenden. Gemeinsam mit Uwe Klemens als Versichertenvertreter leitet sie nun als Arbeitgebervertreterin das wichtige Gremium der sozialen Selbstverwaltung. Die beiden Vorsitzenden sprechen im Interview über bevorstehende Aufgaben, ihre Erwartungen an die Ampel-Koalition und Herausforderungen für die Sozialwahlen 2023.

Herr Klemens spricht mit Frau Wagenmann, die einen Blumenstrauß hält

Die beiden Verwaltungsratsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes Uwe Klemens und Dr. Susanne Wagenmann

Frau Wagenmann, herzlichen Glückwunsch zur Wahl als neue alternierende Verwaltungsratsvorsitzende! Welche drei Themen und Anliegen wollen Sie zuerst im Verwaltungsrat gemeinsam mit Herrn Klemens aufgreifen?

Wagenmann: Vielen Dank für die Glückwünsche. Ich freue mich sehr darauf, in den nächsten Jahren aktiv in der Selbstverwaltung, speziell im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes mitarbeiten zu dürfen. Wir haben wichtige Aufgaben vor uns. Die gesundheitliche Versorgung der Flüchtlinge aus der Ukraine ist eines der drängenden Themen. Des Weiteren ist mit Blick auf die GKV-Finanzen klar, dass wir eine gewaltige Finanzierungslücke für 2023 haben. Es kann kein „Weiter so“ geben. Die gesetzliche Krankenversicherung muss auch in Zukunft leistungsfähig und finanzierbar bleiben. Deshalb müssen wir uns dringend Gedanken über notwendige Strukturreformen machen. Dazu werden wir uns auch als Selbstverwaltung positionieren. Kurzfristig muss es - so wie im Koalitionsvertrag der Ampel angelegt - zusätzliche Steuerzuschüsse geben. Der dritte Punkt betrifft die Zukunft der Pflegeversicherung. Da sieht die Finanzlage nicht viel besser aus und wir wissen, dass das Problem aufgrund der demografischen Entwicklung noch größer wird. Zudem muss es gelingen, den Personalmangel in der Pflege auszugleichen. Hier brauchen wir eine Gesamtstrategie, die erstens alle inländischen Potenziale durch bessere Aus- und Weiterbildung, gute Arbeitsbedingungen sowie Stärkung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschließt. Zweitens sollten wir ergänzend auch qualifizierte ausländische Fachkräfte gewinnen.

Stichwort Pflege: Sie waren lange für die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz und auch für die Kassenärztliche Vereinigung tätig. Was nehmen Sie aus dieser Zeit für Ihre jetzige Aufgabe mit?

Wagenmann: Aus meiner Sicht ist es von Vorteil, möglichst viele Seiten zu kennen. Aufgrund meiner früheren Tätigkeiten habe ich eine Vorstellung der Versorgungsabläufe, aber auch davon, wo den Pflegekräften und der Ärzteschaft der Schuh drückt. Das hilft, bei Reformideen Lösungen zu antizipieren, die dann auch umsetzbar sind.

Was wünschen Sie sich für die Zusammenarbeit mit Ihrer neuen Co-Vorsitzenden im Verwaltungsrat, Herr Klemens?

Klemens: Wir hatten einen sehr guten Start in der Zusammenarbeit – offen, loyal und ohne Vorbehalte. So soll es auch weitergehen. Wir haben vereinbart, dass wir bei Problemen direkt miteinander und nicht übereinander reden.

Die alternierende Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes Dr. Susanne Wagenmann

Dr. Susanne Wagenmann

Herr Klemens, wie bewerten Sie die Pläne der Ampelkoalition in Bezug auf die Zukunft der Selbstverwaltung? Das Wort kommt im Koalitionsvertrag nicht vor. Finden Sie das beunruhigend?

Klemens: Das beunruhigt mich sehr. Ich kenne keine konkreten Pläne der Ampel in Bezug auf die Selbstverwaltung. Deshalb müssen wir der Koalition auf allen Ebenen klarmachen, dass sie uns braucht. Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik benötigt eine funktionierende gesetzliche Krankenversicherung. Dieses System hat– bei aller notwendigen Kritik – nicht zuletzt dafür gesorgt, dass wir so gut durch die Pandemie gekommen sind. Die Ampel wäre also gut beraten, damit zu beginnen, staatliche Aufgaben auch staatlich zu finanzieren. Ein Beispiel: Wenn die Ausgaben für die gesundheitliche Versorgung von ALG-II-Empfängerinnen und -Empfängern voll aus Steuermitteln ausgeglichen würden, wäre das schon einmal eine Entlastung von zehn Milliarden Euro für die GKV. Das ist Aufgabe des Staates, nicht unsere. Dann wäre es für uns schon einmal viel leichter, eine solide Finanzierung der GKV für die nächsten Jahre zu planen.

Was kann und sollte die Politik aus Ihrer Sicht konkret tun, um die Selbstverwaltung zu stärken?

Wagenmann: Die Selbstverwaltung muss attraktiv sein. Das ist sie dann, wenn es auch etwas zu entscheiden gibt. Nur dann lassen sich nämlich auch kompetente Menschen für ein Ehrenamt begeistern. Die Politik sollte der Selbstverwaltung mehr Entscheidungsspielraum lassen bzw. wieder zurückgeben, statt sie in ihren Kompetenzen zu beschneiden, wie wir es in der vergangenen Wahlperiode erleben mussten.

Klemens: Ich stimme voll zu. Die Politik muss endlich wieder das Subsidiaritätsprinzip mit Leben füllen und nicht nur in Sonntagsreden hochhalten. Ich halte nichts von einem staatlichen Gesundheitssystem, wie wir es in England sehen.

Wie können wir mehr Fürsprecherinnen und Fürsprecher in Politik und Gesellschaft gewinnen?

Wagenmann: Die soziale Selbstverwaltung ist ein konstitutives Element unserer Sozialversicherung und ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Das müssen wir deutlich machen. Arbeitgeber und Versichertenvertreter wirken partnerschaftlich zusammen. Hier fließen unterschiedliche Lebens- und Berufserfahrungen zusammen und sorgen dafür, dass wir am Ende ausgewogene und lebensnahe Sachlösungen finden. Der Bundestag hat sich ja deutlich verjüngt und neu zusammengesetzt. Gerade bei den neuen Abgeordneten, die wahrscheinlich mit dem Thema bisher kaum in Berührung gekommen sind, müssen wir Klinken putzen und klarmachen, was für eine Errungenschaft die Selbstverwaltung ist - nämlich, dass die Beitragszahlenden über die Selbstverwaltung in den Sozialversicherungszweigen mitbestimmen.

Der alternierende Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes Uwe Klemens

Uwe Klemens

Was wünschen Sie sich für die 2023 anstehenden Sozialwahlen?

Klemens: Ich bin neben meiner Tätigkeit im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes auch ehrenamtlicher Vorsitzender des Verbandes der Ersatzkassen (vdek). Auch in dieser Eigenschaft wünsche ich mir eine gute Beteiligung beim Projekt der Onlinewahl. Wenn das reibungslos funktioniert, wäre das ein gutes Beispiel für folgende Wahlen. Man könnte dann überlegen, wie man Menschen noch niedrigschwelliger für Wahlen begeistern kann. Als Gewerkschafter wünsche ich mir natürlich auch viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in den Gremien der Selbstverwaltung.

Wagenmann: Ich kann dem nur zustimmen. Ich wünsche mir viele starke Arbeitgebervertreterinnen und –vertreter, weil ich überzeugt bin, dass wir starke Partner brauchen, die gegenseitig um Lösungen ringen. Das ist nicht immer einfach, aber so können wir uns sicher sein, am Ende die beste Lösung gefunden zu haben. Und die wird dann auch von allen Seiten mitgetragen. Ich schließe mich ebenso dem Wunsch von Herrn Klemens bzgl. der Onlinewahl an, die hoffentlich angenommen wird. Ich wünsche mir natürlich insgesamt eine hohe Wahlbeteiligung, auch wenn ich da realistisch bin. Es ist nicht leicht, aktuell für das Thema Sozialversicherungswahl zu begeistern. Ich hoffe zudem, dass es uns gelingt, für die Arbeit in der Selbstverwaltung mehr jüngere Menschen und mehr Frauen zu gewinnen. Eine entsprechende Geschlechterquote für die nächste Sozialwahl ist ja vorgesehen. Ich glaube, dass die unterschiedlichen Sichtweisen, die durch Frauen und Männer, junge und ältere Menschen in die Gremien eingebracht werden, am Ende zu guten Lösungen führen.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe insbesondere für Frauen, sich nicht in der Selbstverwaltung zu engagieren?

Wagenmann: Wir müssen vor allem die Arbeit in den Gremien attraktiver machen, nicht nur für Frauen, auch für jüngere Menschen. Dazu gehört, dass Sitzungen online stattfinden können, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben ist, dass wir Sitzungen bündeln, dass wir insgesamt mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse von Frauen und jüngeren Menschen nehmen.

Klemens: Neben diesen richtigen Punkten müssen wir auch das Rollenverständnis in der Gesellschaft weiter hinterfragen. Das müssen wir peu à peu von unten angehen. Ich kann nicht erwarten, bspw. weibliche Betriebsratsvorsitzende zu finden, wenn es kaum weibliche Betriebsräte gibt. Der GKV-Spitzenverband ist hier schon weiter mit einem mehrheitlich weiblichen Vorstand.

Frau Wagenmann, Herr Klemens, vielen Dank für das Gespräch! (faf/cwi)

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