Seltene Erkrankungen

Orphan Drugs: Zusatznutzen darf keine Fiktion bleiben

April 2022

Bis Ende März 2022 wurden insgesamt 103 AMNOG-Arzneimittel zugelassen, die bei Markteintritt auch eine Zulassung als Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens hatten. Bei diesen sogenannten Orphan Drugs wird pauschal ein Zusatznutzen unterstellt, der anders als bei anderen neuen Arzneimitteln nicht belegt werden muss. Nicht nur mit Blick auf die steigenden Ausgaben für Orphan Drugs ist diese Regelung kritisch zu hinterfragen.

Orphan Drugs profitieren bereits vor der Zulassung durch Vergünstigungen bei der wissenschaftlich/regulatorischen Beratung durch die Zulassungsbehörde. Zudem erhalten Unternehmen für Orphan Drugs ein zusätzliches Vermarktungsschutzrecht, was den Eintritt günstiger Nachahmerpräparate zeitlich verzögern kann. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass Orphan Drugs ihren Zusatznutzen nicht im Rahmen einer regulären Nutzenbewertung belegen müssen, sondern dieser bereits durch die Zulassung als belegt gilt. Erst ab einer Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro im Jahr muss der Zusatznutzen nachgewiesen werden. Diese Regelung hat zur Folge, dass der tatsächliche therapeutische Mehrwert eines Orphan Drugs lange Zeit weder den behandelnden Ärztinnen und Ärzten noch den Patientinnen und Patienten bekannt ist.

Viele Orphan Drugs ohne Zusatznutzen

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hat kürzlich untersucht, ob die Zusatznutzenfiktion bei Orphan Drugs gerechtfertigt ist. Ergebnis: Weniger als die Hälfte der vom IQWIG untersuchten Orphan-Drug-Bewertungen hatte tatsächlich einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Das heißt, dass die Hoffnung der Patientinnen und Patienten und der verschreibenden Ärztinnen und Ärzte auf einen echten Fortschritt bei der Behandlung der jeweiligen Krankheit durch ein bestimmtes Produkt sich oft nicht erfüllt. Um mehr Transparenz und Klarheit für Erkrankte zu schaffen, wäre es notwendig, dass Hersteller zum einen aussagekräftige Studien vorlegen und zum anderen dass die Sonderregelungen für Orphan Drugs entfallen.

Die Hand eines Mannes mit einer einzelnen Tablette

Auffällig ist außerdem, dass von den bis Ende März 2022 103 als Orphan Drug zugelassenen AMNOG-Arzneimitteln aktuell nur noch 89 Arzneimittel eine Zulassung als Orphan Drug besitzen. Bei den restlichen 14 Arzneimitteln wurde demnach die Zulassung als Orphan Drug im Zeitverlauf aufgehoben. Dies kann unterschiedliche Gründe haben, u. a. steht es pharmazeutischen Unternehmen frei, ihren Orphan Drug-Status zurückzugeben. Im Ergebnis bleiben jedoch Krankenkassen, und damit die Beitragszahlenden, auf den Kosten der besonderen Orphan-Privilegierung sitzen. Dies spricht einmal mehr dafür, dass die Sonderregelung für Arzneimittel bei seltenen Erkrankungen nicht gerechtfertigt ist.

Beachtenswert ist die Umsatzentwicklung von Orphan Drugs. Diese machen weniger als ein Prozent am ambulanten AMNOG-Markt aus, aber sind mittlerweile für ca. 20 Prozent der Ausgaben verantwortlich. Betrachtet man die Gruppe der zugelassenen Orphan Drugs genauer, fällt noch einmal mehr auf, wie hochpreisig einige wenige Arzneimittel sind. Die folgende Abbildung zeigt die Aufteilung der Gesamtumsätze der 89 verbliebenen Orphan Drugs im Jahr 2021:

Kreisdiagramm mit dem Umsatz von Arzneimitteln, die aktuell noch als Orphan Drug zugelassen sind

Demnach weisen 14 Orphan-Arzneimittel gar keine messbaren Umsätze auf, wobei elf dieser Arzneimittel erst nach dem 1. Januar 2021 zugelassen wurden. 16 Arzneimittel weisen nur vergleichsweise geringe Umsätze von weniger als 5 Millionen Euro auf. 25 Arzneimittel weisen einen Jahresumsatz zwischen 5 und 20 Millionen Euro auf. Immerhin 18 Produkte zeigen einen Umsatz oberhalb von 20 Millionen Euro und unterhalb der derzeitigen Orphan-Drug-Umsatzschwelle in Höhe von 50 Millionen Euro. 16 Produkte haben diese Grenze bereits überschritten. Bei all den angegebenen Zahlenwerten ist darauf hinzuweisen, dass sich (nach Kenntnis der stationären Umsätze für das Jahr 2021) die Größe der Gruppen mit relativ geringen Umsatzzahlen voraussichtlich verkleinern und die Gruppe mit höheren Umsatzzahlen nochmals vergrößern wird.

Sonderregelung für Orphan Drugs abschaffen

Diese Zahlen verdeutlichen, dass es eine Reform bei der Zulassung und Preisfestsetzung von Orphan Drugs braucht. Die Nutzenbewertung darf nicht erst ab einer bestimmten Umsatzschwelle und damit Monate und manchmal Jahre nach der Zulassung und Anwendung greifen. Ohne die Sonderregelung für Orphan Drugs gäbe es für alle Hersteller einen stärkeren Anreiz, auch zu diesen Arzneimitteln aussagekräftige Studien in Auftrag zu geben und patientenrelevante Daten vorzulegen. (der/faf)

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