Interview

"Der Kassenmarkt wird in Bewegung bleiben"

Juni 2016

Zum Start von 90 Prozent, dem E-Magazin des GKV-Spitzenverbandes, haben wir mit Dr. Doris Pfeiffer gesprochen. Sie ist die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes und äußert sich im Interview zur Entwicklung der Zusatzbeitragssätze und zu möglichen Gesetzesänderungen im Arzneimittelbereich - und gibt Einblicke in die Entstehungsgeschichte des neuen Online-Magazins.

Frau Dr. Pfeiffer, Anfang des Jahres haben viele Krankenkassen ihre Zusatzbeiträge noch einmal erhöht. Was ist der Grund dafür?

Wir sehen uns seit vielen Jahren mit einem strukturellen Defizit konfrontiert. Das heißt, dass die Ausgaben der Krankenkassen generell stärker steigen als die Einnahmen. Verstärkt wird diese Problematik durch die Politik, die mit zahlreichen Reformen im Gesundheitsbereich gerade in jüngster Zeit deutliche Zusatzausgaben bei den Kassen verursacht.

Allein die Krankenhausreform, die in diesem Jahr in Kraft getreten ist, wird die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in den kommenden Jahren finanziell mit mehreren Milliarden Euro belasten. Besonders stark ist die Steigerung aber auch bei den Ausgaben für Arzneimittel.

Diese immer weiter steigenden Ausgaben müssen natürlich finanziert werden – und das bedeutet: steigende Beitragssätze.

Sie haben die Arzneimittel als besonders großen Kostentreiber gerade angesprochen. In diesem Jahr hat ja der Pharmadialog zwischen Bundesregierung und Pharmaindustrie stattgefunden, nach dessen Abschluss sich eine Reform der Arzneimittelmarktgesetzgebung abzeichnet. Können damit die steigenden Ausgaben der Kassen abgefangen oder reduziert werden?

Erst einmal müssen wir abwarten, welche Änderungen eine mögliche AMNOG-Reform tatsächlich bringt. Das Ministerium und auch die Bundestagsabgeordneten haben zwar eine Reihe von Ansatzpunkten vorgestellt, aber welche davon sich in welcher Form in einem Gesetz wiederfinden werden, bleibt noch abzuwarten.

Wir fordern schon länger, dass die Erstattungsbeträge, die wir mit den Pharmaunternehmen aushandeln, auch rückwirkend gelten. Insbesondere bei den Arzneimitteln, die keinen Zusatznutzen haben, ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, warum für sie im ersten Jahr ein Fantasiepreis gelten soll. Dies erhöht die Umsätze der Pharmaunternehmen, ohne dass für Patientinnen und Patienten ein adäquater Zusatznutzen entsteht. Den Schaden haben die Beitragszahler.

Beim Pharmadialog ist als Lösung eine Umsatzschwelle für die ersten zwölf Monate ins Gespräch gebracht worden. Der Erfolg dieser Idee steht und fällt jedoch mit der Höhe dieser Schwelle. Konsequenter und effektiver wäre es, den verhandelten Erstattungsbetrag für ein Arzneimittel rückwirkend ab dem ersten Tag gelten zu lassen.

Dr. Doris Pfeiffer im Interview

Selbst wenn im Bereich Arzneimittel Einsparungen erzielt werden könnten, würde dies die Kassen merklich entlasten?

Durch das AMNOG konnten die Krankenkassen in den letzten drei Jahren etwa 1,5 Mrd. Euro einsparen. Mit den von uns geforderten Maßnahmen wären durchaus höhere Einsparungen möglich. Dies würde den Druck auf die Zusatzbeitragssätze mindern. Jedoch ist nicht allein der Arzneimittelbereich für die gestiegenen Beitragssätze verantwortlich. Die zahlreichen Reformgesetze des letzten Jahres, insbesondere im Krankenhausbereich, haben deutliche zusätzliche Belastungen gebracht.

Wirken sich diese Belastungen auf die Wechselbereitschaft der Versicherten aus?

Auch wenn es die Zusatzbeitragssätze in heutiger Form erst seit Beginn des letzten Jahres gibt, sehen wir bereits in diesem Jahr, dass sich die Spanne deutlich vergrößert hat. Damit nehmen natürlich auch die Mitgliederwanderungen zu, das heißt also, es finden durchaus Kassenwechsel statt. Bisher zwar in einem eher überschaubaren Maß, aber das kann sich schnell ändern.

"Wichtig ist, dass Versicherte noch eine echte Auswahl an Krankenkassen haben."

Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Entwicklung im Kassenmarkt grundsätzlich ein?

Wir beobachten ja schon seit Jahren intensive Fusionsbewegungen; die Konzentration in der Kassenlandschaft ist sehr stark. Das hat die Politik ja auch so gewollt. Erklärtes Ziel der gesundheitspolitischen Gesetzgebung der vergangenen Jahre war es, den Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland über die Höhe des Zusatzbeitrags zu verschärfen. Als Folge hat sich die Anzahl der Krankenkassen in Deutschland in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert. Der Kassenwettbewerb folgt also inzwischen den Gesetzen des Marktes – mit allen Vor- und Nachteilen.

Wichtig ist allerdings, dass so viele Kassen übrig bleiben, dass Versicherte noch eine echte Auswahl haben. Im Moment kann man in vielen Bereichen der Wirtschaft starke Konzentrationstendenzen beobachten – ob im Handel, bei Banken oder im Bereich Telekommunikation. Bedauerlich ist, dass die Politik – trotz gegenteiliger Aussagen – den Fokus sehr stark auf den Preis lenkt. Denn die Attraktivität einer Krankenkasse bemisst sich ja nicht nur an der Höhe des Zusatzbeitragssatzes. Wenn Kassen besondere Angebote zur Versorgung für ihre Versicherten anbieten oder besonders attraktiv für die Versicherten in einer Region sind, können sie auch unabhängig von der Beitragshöhe erfolgreich am Markt agieren.

Eine grundsätzliche Prognose über die Entwicklung des Kassenmarktes zu treffen, ist ausgesprochen schwierig, da immer die individuelle Situation einer Kasse berücksichtigt werden muss. Und diese ist bei den immer noch über 100 Kassen sehr unterschiedlich.

Dr. Doris Pfeiffer im Interview

Die beiden eben angerissenen Themen Kassenfinanzen und AMNOG werden auch im E-Magazin 90 Prozent näher beleuchtet. Warum bringt der GKV-Spitzenverband ein Magazin heraus und wen möchten Sie damit erreichen?

Viele Menschen engagieren sich für eine gute Gesundheitsversorgung in Deutschland – von der Pflegedienstleiterin über den KV-Vorsitzenden bis hin zum Krankenkassenmitarbeiter und zur Hebamme. Diese Menschen möchten wir mit wissenswerten Informationen zur Kranken- und Pflegeversicherung versorgen – auch und gerade mit solchen, die nicht für die Massenmedien taugen, aber für die Fachöffentlichkeit von großem Interesse sind. Dabei geht es uns auch darum, die Bandbreite der Themen zu beleuchten, die der GKV-Spitzenverband bearbeitet. Einen kleinen Ausschnitt finden die Leserinnen und Leser zukünftig im alle drei Monate erscheinenden E-Magazin 90 Prozent.

Viele Menschen engagieren sich für eine gute Gesundheitsversorgung in Deutschland – von der Pflegedienstleiterin über den KV-Vorsitzenden bis hin zum Krankenkassenmitarbeiter und zur Hebamme.

Das Magazin heißt 90 Prozent, das ist ja ein eher ungewöhnlicher Name. Wofür steht der?

In Deutschland sind 90 Prozent der Bevölkerung gesetzlich versichert. Das garantiert ihnen eine umfassende Gesundheitsversorgung von hoher Qualität. Für mehr als 70 Millionen Menschen schafft der GKV-Spitzenverband die Rahmenbedingungen für deren gesundheitliche und pflegerische Versorgung. Mit diesem Titel möchten wir also darauf aufmerksam machen, dass wir für nahezu die gesamte Bevölkerung Deutschlands die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung übernehmen. Diese 90 Prozent möchten wir vertreten – und gleichzeitig informieren.

Warum erscheint das E-Magazin nur online?

Die Form eines E-Magazins passt hervorragend für unsere Themen. Wir sind damit sehr flexibel. Denn auch die Rahmenbedingungen der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung sind ständig in Bewegung. Online können die verschiedensten Themen ressourcensparend und zeitnah aufgegriffen werden. Viele Beiträge von 90 Prozent sind kurz und aktuell – gleichzeitig erwarten die Leserinnen und Leser auch detaillierte Hintergrundartikel. Online ist beides auch in wechselnden Anteilen gut möglich. Ich freue mich sehr, dass dieses neue Kommunikationsangebot nun an den Start geht und bin gespannt, auf welche Resonanz 90 Prozent bei den Leserinnen und Lesern stößt.

Frau Dr. Pfeiffer, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Dr. Doris Pfeiffer

Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes

Die Diplom-Volkswirtin ist seit über 25 Jahren im Gesundheitswesen tätig. Nach Stationen beim AOK-Bundesverband, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen ist sie seit 2007 Vorsitzende des Vorstands beim GKV-Spitzenverband in Berlin.
Daneben ist sie als Lehrbeauftrage für den Weiterbildungsstudiengang Public Health tätig.

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