Varianten der Preisobergrenze
Als „klassische“ Variante kann man die Konkretisierung der wirtschaftlichsten zweckmäßigen Vergleichstherapie durch das kostengünstigste Arzneimittel bezeichnen. Bromfenac ist ein Musterbeispiel: Es wurde das wirtschaftlichste Arzneimittel des als zVT benannten Wirkstoffes herangezogen (130b-Sst. 1-11). Für die Anwendung der klassischen Auslegung kam es durchgängig durch beide Amtszeiten darauf an, dass die Alternativen der zVT als „gleichermaßen zweckmäßig“ aufgrund einer „Oder-Verknüpfung“ betrachtet werden konnten sowie die Abwesenheit von Gründen für ein Abweichen von der klassischen Umsetzung (vgl. beispielsweise 130b-SSt. 5-14, 130b-SSt. 11-17, 3 P 10-18, 4 P 12-18, 8 P 16-18).
Früh zeigte sich – nämlich bereits mit dem zweiten Schiedsspruch der Amtszeit Dr. Zipperers – dass die Aufgabe der Konkretisierung der Obergrenze keine regelhaft simple ist und Spielräume eröffnen: Die zVT setzte sich im Fall Retigabin aus zwei Wirkstoffen mit unterschiedlichen Preisen zusammen, beide waren patientenindividuell zu dosieren und die Kosten im Beschluss waren in Spannen ausgedrückt. Um dem Rechnung zu tragen, legte die Schiedsstelle einen Erstattungsbetrag fest, der den verordnungsgewichteten durchschnittlichen Kosten pro Jahr und Patientin bzw. Patient für beide Wirkstoffe entsprach (130b-SSt. 3-12). Dasselbe Vorgehen wurde von der Schiedsstelle unter Zipperer ein weiteres Mal angewandt (130b-SSt. 2-13). Sie fand keine Anwendung in der Amtszeit Prof. Wasems. Hier entwickelte sich durch das Verfahren zu Mirabegron (130b-Sst. 7-15) ein anderer Ansatz: Die Schiedsstelle setzte einen Erstattungsbetrag fest, der etwa in der Mitte zwischen den jeweiligen Jahrestherapiekosten lag, die sich auf Basis von den Parteien unterschiedlich bestimmten Dosierungsannahmen ergaben. Im Klageverfahren rügte das LSG, dass die Schiedsstelle den „Weg eines freien Kompromisses“ wählte und „sich nicht für eine bestimmte Berechnungsmethode entschieden [habe]“. Das LSG bestimmte den niedrigsten oberen Wert innerhalb der Preisspanne der wirtschaftlichsten Therapie als vorläufigen Erstattungsbetrag. Das LSG wollte diesen Wert als „strikte Kappungsgrenze“ verstanden wissen, die nicht ausgeschöpft werden müsse. Gleichwohl setzte die Schiedsstelle in zwei Folgeverfahren den oberen Spannenwert der wirtschaftlichsten zVT an (130b-SSt. 11-16; 8 P 16-18).
Eine weitere Ausnahme zur klassischen Variante ist die sogenannte patientenindividuelle Therapie (kurz: PIT): Bereits im Jahr 2014 im Schiedsspruch zum Arzneimittel Stribild® ist zu lesen, dass bei einer vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in seinem Beschluss als „patientenindividuell“ qualifizierten zweckmäßigen Vergleichstherapie „alle vom G-BA aufgeführten Wirkstoffkombinationen als Gesamtheit die zweckmäßige Vergleichstherapie“ darstellten (Az. 130b-Sst. 6-14, S. 18). Die Schiedsstelle ging in dem Fall davon aus, dass „im Regelfall eine Wirkstoffkombination gewählt werden kann, die im unteren Bereich der Preisverteilung angesiedelt ist““ und benennt verschiedene methodische Ansätze (130b-Sst. 6-14; zur gerichtlichen Kritik an der Entscheidung vgl. LSG Bbg, L 1 KR 345/15 KL ER). Die Schiedsstelle in der Amtszeit Wasem setzte die Linie fort, dass die von einer „patientenindividuellen“ Therapie erfassten Wirkstoffe in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen seien. Die Ausnahmekonstellation konkretisierte die Schiedsstelle ab Juli 2015 variantenreich: Im Verfahren zu lebenden Larven wurde die Obergrenze konkretisiert, indem auf die Kosten der günstigeren Therapieform ein Drittel der Differenz zwischen den Kosten der beiden Therapieformen addiert wurde (130b-SSt. 8-15). Im Verfahren zum Wirkstoff Fingolimod berücksichtigte die Schiedsstelle für die Patientengruppen ohne Zusatznutzen alle Wirkstoffe mit den Kosten des jeweils kostengünstigsten Arzneimittels des jeweiligen Wirkstoffes, gewichtet nach einem „realen Versorgungsmix“ (130b-SSt. 14-16). Ähnlich verfuhr die Schiedsstelle zum Wirkstoff Opicapon (130b-SSt. 16-17). Im Fall des Wirkstoffes Talimogen Iaherparepvec (Imglygic®) zog die Schiedsstelle einen wiederum anderen Ansatz heran: Allein die Kosten des preiswertesten Vertreters einer der drei Wirkstoffklassen wurden Basis für den Erstattungsbetrag. Dessen Jahrestherapiekosten lagen oberhalb der jeweils wirtschaftlichsten Vertreter der anderen Wirkstoffklassen und deckten so die Versorgung in diesen Klassen ab. Im selben Verfahren zeigte sich die Schiedsstelle allerdings offen für ein weiteres Konzept und setzte einen alternativen Erstattungsbetrag auf Basis einer Verordnungsgewichtung aller Wirkstoffe der zVT, konditional auf den Eintritt einer bestimmten Entwicklung in der Verordnungsrealität bedingt, fest (130b-Sst. 11-17).
Auch wenn die Umsetzung zur Vorgabe der Obergrenze sehr variantenreich ist, so kann man in der Fallgruppe Arzneimittel ohne Zusatznutzen durchaus Linien identifizieren. Eine davon betrifft die Preisobergrenze: Mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) ist die zuvor zwingend anzuwendende Preisobergrenze in eine „Soll-Vorschrift“ umgewandelt, d. h. im begründetem Einzelfall darf die Schiedsstelle einen Erstattungsbetrag oberhalb der Preisobergrenze festsetzen. Seit Inkrafttreten des AMVSG im Mai 2017 gab es sechs Verfahren mit Bezug zur Ausnahme von der Preisobergrenze: In fünf Verfahren wurde sie im Ergebnis nicht bejaht. Im sechsten Verfahren bestand Konsens, dass eine solche Ausnahme vorliegt. Die Schiedsstelle führt zwar im Schiedsspruch zu Vortioxetin aus, „allgemeingültige Kriterien, wann ein begründeter Einzelfall vorläge, können wohl kaum festgelegt werden“. Sie hat jedoch als Linie entschieden, dass die Darlegungslast für die Anwendung der Ausnahme von der Preisobergrenze beim Unternehmer liegt (130b-SSt. 4-16).