Interview

„Zurück zu kaufmännischen Tugenden – das würde ich der Ministerin gerne zurufen“

Juli 2025

Seit dem 1. Juli 2025 ist der neue Vorstand des GKV-Spitzenverbandes komplett: Oliver Blatt hat den Vorstandsvorsitz beim GKV‑Spitzenverband übernommen. Er ist der Nachfolger von Dr. Doris Pfeiffer, die nach 18 Jahren an der Spitze des Verbandes in den Ruhestand gegangen ist. Der Diplom-Volkswirt ist bereits seit 30 Jahren beruflich in der Kassenlandschaft tätig – zunächst beim IKK-Bundesverband, seit 2001 dann beim Verband der Ersatzkassen (vdek), wo er zuletzt Vertreter des Vorstandes war. Wir haben anlässlich seines Amtsantrittes mit Herrn Blatt gesprochen. Im Interview äußerte er sich u. a. zu den finanziellen Herausforderungen in der GKV und zur Rolle der Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Herr Blatt, Sie übernehmen den Vorstandsvorsitz zu einem kritischen Zeitpunkt: Die Finanzen von GKV und SPV sind in einem desolaten Zustand. Wie wollen Sie dieser Situation als Vorstandsvorsitzender begegnen, welche Maßnahmen zur kurzfristigen Kostenstabilisierung sehen Sie?

In der Tat – um die finanzielle Situation der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung mache ich mir große Sorgen: Letztes Jahr hat die GKV fast 7 Milliarden Euro Minus gemacht und die SPV hat mit 1,5 Milliarden Euro Minus abgeschlossen – das sind bedenkliche Zahlen! Wichtig aus meiner Sicht ist, dass wir als GKV-Spitzenverband in der Kommunikation stärker darauf setzen, dass wir nicht irgend ein Lobbyverband sind, sondern vielmehr DIE Stimme aller Beitragszahlenden und Versicherten; eine selbstverwaltete Institution, die deren Interessen gesetzlich legitimiert vertritt. Es ist mir ein Anliegen, dass wir dies kommunikativ in den Fokus stellen und dadurch am Ende mehr Gehör finden.

Denn wir haben ja Lösungen im Gepäck für die finanzielle Misere, beispielsweise dass die GKV vom Staat möglichst schnell alle Gelder zurückerhalten muss, bei denen wir Aufgaben des Staates übernehmen und wo dieser seiner Gegenfinanzierungspflicht aber nicht nachkommt. Als Beispiel: Für die Krankenversorgung von Bürgergeldbeziehenden in der GKV belaufen sich die offenen Forderungen auf 10 Mrd. Euro – und das Jahr für Jahr! Oder denken wir an die Corona-Zeit, als die Pflegekassen dem Bund finanziell ausgeholfen haben und rund 5 Mrd. Euro dieser Unterstützung ebenfalls nicht zurückbekommen haben.

Das heißt: Wir haben etwas zu sagen und müssen dafür sorgen, dass wir in der Politik besser gehört werden.

Oliver Blatt im Gespräch

Kurz vor Ihrem Amtsantritt ist eine neue Bundesregierung mit einer neuen Gesundheitsministerin ins Amt gekommen. Im Koalitionsvertrag werden die klammen Kranken- und Pflegekassen zwar berücksichtigt, aber grundlegende Reformen werden in die Zukunft verschoben. Wenn Sie es in der Hand hätten: Welche Maßnahme mit langfristiger Wirkung sollte die Regierung jetzt sofort angehen?

Da fällt mir direkt etwas ein, was eigentlich auf der Hand liegt: Nämlich, dass man nicht mehr ausgeben darf, als man einnimmt. Oder, etwas komplizierter ausgedrückt, einnahmenorientierte Ausgabenpolitik. Das heißt, dass Honorare, Budgets, Vergütungen nicht die Einnahmen in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung übersteigen dürfen. Das wäre gesetzlich relativ einfach zu regeln und ich halte es für eine sehr wichtige Maßnahme mit langfristiger Wirkung, um die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen.

„Es liegt eigentlich auf der Hand: Man darf nicht mehr ausgeben, als man einnimmt.“

Das heißt ja nicht, dass wir eine „Nullrunde“ fahren wollen und uns jeglichen Honorarsteigerungen verweigern. Wir haben aktuell Einnahmensteigerungen von 5,1 Prozent. In diesem Rahmen hätten wir also genug Spielraum, um bei Vergütungsverhandlungen etwa die Inflation nachzuvollziehen und Tarifentwicklungen ausreichend zu finanzieren.

Meine Idee ist also: zurück zur kaufmännischen Tugend mit einem Gesetz, das dafür sorgt, dass wir nicht mehr ausgeben als wir einnehmen – und an das sich dann übrigens auch Schiedsstellen halten müssen. Das würde ich der neuen Ministerin gerne mit auf den Weg geben.

Abgesehen von den Finanzen: Welche gesundheitspolitischen Weichenstellungen auf Bundesebene halten Sie in den nächsten Jahren für besonders wichtig – und wie sollte sich der GKV-Spitzenverband in die Diskussionen einbringen?

Zwei Dinge: Als erstes müssen wir sehen, dass wir die immer weniger werdenden Fachkräfte gut und effizient einsetzen. In allen Gesundheitsberufen, aber vor allem in der Pflege ist der Fachkräftemangel immer wieder ein großes Thema. Aufgrund des demografischen Wandels haben wir immer weniger Menschen, die uns in Zukunft versorgen können. Daher müssen wir immer wieder den Fokus darauf legen, dass wir das Personal, das wir noch haben, gut und effizient einsetzen.

Meine These ist: Eine Krankenhausreform bietet hier gute Ansatzpunkte, denn wenn man Krankenhäuser konzentriert auf weniger Standorte, in denen aber gute Qualität erbracht wird, kann man auch das Personal gezielter einsetzen. Das gleiche gilt natürlich in der Pflegeversicherung. Da ist in den letzten Jahren schon viel passiert – von der Bezahlung bis zu den Arbeitsbedingungen ist in der Pflege viel verbessert worden. Gleichwohl darf man hier nicht lockerlassen, denn was nützen uns die besten Rahmenbedingungen, wenn wir niemanden mehr haben, der uns versorgt?

Oliver Blatt im Gespräch

Das zweite Thema ist der Klimaschutz. Da sehe ich im Gesundheitswesen zwei Aspekte: Zum einen muss das Gesundheitswesen sich dringend auf den Weg machen, um nachhaltiger zu arbeiten. Der Gesundheitssektor ist für fünf Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Warum also sollte es im SGB V neben dem Wirtschaftlichkeitsgebot nicht auch ein Nachhaltigkeitsgebot geben?

Also: Auf der einen Seite Gesundheit nachhaltiger ausgestalten – und uns auf der anderen Seite darauf einstellen, dass wir das Gesundheitswesen auf die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels vorbereiten. Das sind zum Beispiel direkte Folgen von Hitzewellen, aber beispielsweise auch die Zunahme von Hautkrebs oder das verstärkte Auftreten von Allergien und Asthma.

Ich höre dann immer: Das ist zu teuer, das können wir uns nicht leisten. Ich bin aber davon überzeugt, dass es gar nicht so teuer sein muss, denn viele Dinge, die wir wirtschaftlich umstellen, sind gleichzeitig auch nachhaltig. Und da bin ich wieder bei der Krankenhausreform: Wenn wir Krankenhäuser, die wir nicht benötigen, zusammenführen zu effizienteren Standorten, ist das gleichzeitig auch nachhaltig. Und so können viele Weiterentwicklungen in Versorgungsstrukturen sowohl für bessere Wirtschaftlichkeit als auch für höhere Nachhaltigkeit sorgen.

Sie haben in Ihren vorherigen Stationen im Gesundheitswesen viel mit dem Thema Prävention zu tun gehabt. Was sind Ihre Ziele zur Verbesserung der Prävention und Gesundheitsförderung in der gesetzlichen Krankenversicherung?

Das Thema begleitet mich in der Tat schon sehr lange und liegt mir auch sehr am Herzen. Ich halte es für wichtig, dass wir als Spitzenverband weiterhin für die Ernsthaftigkeit von Prävention werben. Denn ich bin überzeugt, dass wir in Versorgungsprozessen viel zu wenig und viel zu spät über Prävention nachdenken – weil der Prävention immer noch das Label „nice to have“ anhaftet. Wenn aber unser Gesundheitssystem präventiver ausgestaltet wäre, könnten wir nicht nur Geld sparen, sondern die Menschen würden auch länger gesund bleiben.

„Prävention funktioniert nicht gut, wenn die Kassen mit Organisation und Finanzierung allein gelassen werden.“

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Prävention nicht gut funktioniert, wenn die Kassen mit Organisation und Finanzierung allein gelassen werden. Wir brauchen die Kommunen, wir brauchen die Länder, wir brauchen die Wirtschaft an unserer Seite – auch finanziell! Nur dann kann Prävention wirklich gelingen. Plakativ gesprochen: Wenn die Krankenkassen auf der einen Seite gesunde Ernährung fördern und wir es auf der anderen Seite in der Wirtschaft nicht schaffen, ungesunde Ernährung als solche zu deklarieren, oder wenn weiterhin im Kino 2-Liter-Becher Cola an Jugendliche verkauft werden, dann hat das einen gegenläufigen Effekt. Wir brauchen einen Gesamtansatz, der alle genannten Akteure dazu bringt, Prävention Hand in Hand mitzudenken und auch zu finanzieren. Das inhaltlich und kommunikativ voranzutreiben, sehe ich als wichtige Aufgabe des GKV-Spitzenverbandes.

Oliver Blatt im Gespräch

Prävention findet ja nicht nur auf Ebene der Lebenswelten, sondern auch im individuellen Bereich statt. Was ist denn ihr persönliches Rezept für Stressprävention?

Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, sich zeitliche und räumliche Inseln zu schaffen, auf denen man abschalten kann. Die schaffe ich mir beispielsweise, indem ich nach Italien in den Urlaub fahre oder in meine Heimat an den Bodensee – oder indem ich segeln gehe. Ich glaube, je mehr im Job zu tun ist, desto wichtiger ist es, sich solche Inseln zu schaffen und dort wieder Kraft zu tanken. Bisher hat das Rezept für mich sehr gut funktioniert und ich möchte das natürlich auch in meiner neuen Rolle weiterhin so betreiben.

Stichwort Segeln: Wie soll der Verband sich mit Ihnen als Kapitän aufstellen?

Eine alte Segel-Weisheit besagt, dass jeder Kapitän nur so gut ist wie seine Crew – das gilt insbesondere, wenn es stürmisch wird und die Segel gerefft werden müssen. Denn dann gilt es, Hand in Hand zu arbeiten und sich aufeinander verlassen zu können. Und genauso möchte ich auch das „Segelschiff GKV-Spitzenverband“ führen: mit einer guten Crew, in der sich alle aufeinander verlassen können. Dann bin ich mir sicher, dass wir die stürmischen Zeiten meistern können, in denen wir schon mittendrin stecken – und irgendwann natürlich wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen.

Herr Blatt, vie­len Dank für das Ge­spräch.

Zur Person

Oliver Blatt

Oliver Blatt, Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes

Oliver Blatt ist seit dem 1. Juli 2025 Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes. Der Verwaltungsrat hatte den 1967 geborenen Diplom-Volkswirt am 28. November 2024 zum Vorstandsvorsitzenden gewählt. Zuvor war Oliver Blatt schon viele Jahre beruflich in der Kassenlandschaft unterwegs, zunächst von 1995 bis 2001 beim IKK-Bundesverband als Referent für Krankenhausversorgung, danach bis zu seinem Amtsantritt beim GKV-Spitzenverband beim Verband der Ersatzkassen (vdek). Begonnen hat er dort seine Laufbahn als Referatsleiter Verträge/Qualität in der Abteilung Rehabilitation und Prävention, danach wurde er stellvertretender Leiter dieser Abteilung und später Abteilungsleiter Gesundheit. Seit dem Jahr 2024 war er zudem Vertreter des Vorstandes beim vdek.

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