Ambulante Versorgung

Autorenbeitrag von Dr. Julian Dilling und Janett Engel

Der Bedarf an Psychotherapie

Was ist notwendig, was ist zu viel?

Juli 2025

In den letzten zwanzig Jahren ist die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen stark gestiegen. Heute werden etwa 4,6 Mrd. Euro und damit etwa 10 % der Ausgaben für die vertragsärztliche Versorgung für Psychotherapie aufgewandt. Der Anstieg um etwa 83 % in den letzten zehn Jahren wird zu etwa 50 % der Leistungsausweitung zugerechnet; etwa 30 % sind der Erhöhung der Vergütung in diesem Bereich zuzuordnen. Vergleicht man diese Werte mit dem Bereich der ärztlichen Vergütung insgesamt oder der psychiatrischen Versorgung wird die enorme Ausweitung deutlich, denn in diesen Leistungsbereichen ist eine Erhöhung der Vergütung um 27 % bzw. 25 % über den gleichen Zeitraum zu beobachten.

Abbildung 1: Entwicklung des Leistungsbedarfs auf Basis der GKV-Frequenzstatistik

Diese enorme Leistungsausweitung konnte nur erfolgen, weil auch die Anzahl der Leistungserbringenden erhöht wurde. Verschiedene Reformen in der Bedarfsplanung haben neue Zulassungen geschaffen, darüber hinaus wurden volle Zulassungen in Versorgungsaufträge in Teilzeit geteilt. Da die Leistungserbringung bspw. von zwei Versorgungsaufträgen in Teilzeit deutlich über der eines vollen Versorgungsauftrages liegt, hat dies ebenfalls zu einer deutlichen Ausweitung der Leistungsmenge beigetragen.

Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringenden in der Versorgung psychischer Erkrankungen

Aufgrund der Schaffung neuer Sitze und der Teilung bestehender Sitze konnten viele jüngere Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in der vertragsärztlichen Versorgung tätig werden, sodass die psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten durchschnittlich eher jung sind. Der Altersdurchschnitt der psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten liegt derzeit bei etwa 51,9 Jahren – die ärztlichen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten liegen deutlich höher bei etwa 60,8 Jahren und die Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie bei etwa 54,5 Jahren. Besonders deutlich wird der Unterschied zudem, wenn man sich die Leistungserbringenden nach Altersgruppen ansieht, denn hier ist fast die Hälfte der psychotherapeutischen Leistungserbringenden unter 49 Jahren (46,6 %).

Abbildung 3: Altersstruktur der Leistungserbringenden

Der starke Anstieg an Leistungserbringenden hat dazu geführt, dass Deutschland flächendeckend sehr gut versorgt ist, so liegt der Versorgungsgrad bei 22 % der Planungsbereiche zwischen 140 und knapp 370 %; 74 % der Planungsbereiche weisen einen Versorgungsgrad zwischen 110 und 140 % auf; in nur 3 % der Planungsbereiche befindet sich der Versorgungsgrad unter 110 % (Stand 31.12.2025). Die höchsten Versorgungsgrade haben die Universitätsstädte Tübingen (369,5 %), Heidelberg (355,6 %) und Freiburg (328,5 %).

Die Prävalenz psychischer Erkrankungen in Deutschland ist weitgehend stabil

Repräsentative Studien mit standardisierten Diagnoseverfahren haben deutlich gemacht, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen in der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland weitgehend stabil ist; zuletzt lag sie bei 27,8 %.(1) Gleichzeitig ist einerseits ein Anstieg der administrativen Prävalenz (2) bspw. bei Depressionen von 12,5 % im Jahr 2009 auf 15,7 % im Jahr 2017 (3) und andererseits eine Verschlechterung der selbst eingeschätzten psychischen Gesundheit in Bevölkerungsumfragen zu beobachten.(4)

Der steigenden Nachfrage nach psychotherapeutischer Versorgung ausschließlich mit einer Erhöhung der Anzahl an Zulassungen zu begegnen, wird voraussichtlich keine maßgeblichen Effekte hervorrufen; es hat sich in den letzten Jahren sehr deutlich gezeigt, dass die Schaffung neuer Zulassungen und die Ausweitung von Kapazitäten nicht zu einer wahrgenommenen Verbesserung des Zugangs geführt hat.

Aus Sicht der gesetzlichen Krankenkassen ist es daher notwendig, eine ganze Reihe struktureller Verbesserungen vorzunehmen, um den Zugang im Sinne einer zielgerichteten Steuerung zu ermöglichen und die Qualität der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung aufrechtzuerhalten.

Der Zugang in die psychotherapeutische Versorgung muss insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen erleichtert werden

In den letzten Jahren werden verstärkt Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie diskutiert. Je nach Definition und Erhebungsmethode unterscheiden sich die Angaben deutlich: Während die Verbände der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten oft auf Wartelisten verweisen, die nur in etwa der Hälfte der Praxen existieren (5), basieren Befragungen von Patientinnen und Patienten meist auf subjektiven Erinnerungen.

Insgesamt zeigt sich, dass Patientinnen und Patienten, die mehrere Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten kontaktieren, oft dort einen Behandlungsplatz erhalten, wo gerade kurzfristig ein Termin frei wird. Mit jeder weiteren Anfrage steigt somit die Chance, zeitnah eine Therapie beginnen zu können, erheblich. Diese Praxis ist jedoch problematisch für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, denen häufig krankheitsbedingt die Kraft und Motivation fehlt, um sich selbst Hilfe zu organisieren.

Der GKV-Spitzenverband fordert daher eine stärkere Verankerung steuernder Elemente in der Versorgung, die zu einer zielgerichteten Inanspruchnahme von psychotherapeutischen Leistungen führt. Im Sinne der Erleichterung des Zugangs sind verschiedene Ansatzpunkte zu verfolgen, die konzertiert Wirkung entfalten würden. Ein pragmatischer Ansatz ist zudem die Stärkung der Terminvermittlung an einer zentralen Stelle bspw. den Terminservicestellen, an die sich Patientinnen und Patienten niedrigschwellig wenden können. Voraussetzung hierbei muss jedoch sein, dass die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auch eine angemessene Anzahl an Sprechstunden und die Hälfte der Behandlungsplätze über diese Instanz melden und belegen (müssen). Zudem wäre es wünschenswert, dass zukünftig auch Krankenhäuser die Dringlichkeit für eine Vermittlung durch die Terminservicestellen festlegen und eine psychotherapeutische Anschlussbehandlung an einen stationären Aufenthalt einleiten können.

Die psychotherapeutische Leistungserbringung muss anhand der wissenschaftlichen Evidenz weiterentwickelt und die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen gestärkt werden

Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer ambulanten Psychotherapie ist das Vorliegen einer seelischen Erkrankung; darunter wird gemäß der Psychotherapie-Richtlinie eine „krankhafte Störung der Wahrnehmung des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen“ (6) verstanden. Zudem ist auch die Therapie- und Veränderungsmotivation sowie die Kooperations- und Beziehungsfähigkeit der Patientinnen und Patienten im Vorfeld einer Psychotherapie zu klären; nicht für alle psychisch Erkrankten ist eine Richtlinienpsychotherapie das geeignete Versorgungsangebot. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pathologisierung und Ausweitung des Krankheitsbegriffs auf leichte Verhaltensabweichungen und allgemeine Lebensbelastungen ist eine Abgrenzung der seelischen Erkrankung von anderen psychischen Leidenszuständen, die durch Selbstregulation, Unterstützung in der Familie und dem sozialen Umfeld, Selbsthilfe oder psychosozialen Beratungen überwunden werden können oder auch aufgrund von Spontanremissionen abklingen, notwendig.(7) Zudem besteht bei einer voreilig durchgeführten psychotherapeutischen Versorgung das Risiko, dass Patientinnen und Patienten mit leichten Störungen eine Pathologisierung erfahren und damit das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit verlieren.(8)

In den letzten Jahren zeigt sich bei der Durchführung von ambulanter Psychotherapie die zunehmende Tendenz zu einer geringeren Frequenz von Psychotherapiesitzungen.(9) Damit ergibt sich eine deutliche Diskrepanz zu den Studien, auf denen die Wirksamkeitsnachweise der wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren beruhen, da die untersuchten psychotherapeutischen Interventionen überwiegend in einem wöchentlichen Format angelegt sind.

Bei einer Psychotherapie sind zeitliche Kontinuität, Konsistenz und Regelmäßigkeit der Sitzungen notwendige Größen, damit psychotherapeutische Maßnahmen Ihre Wirkung entfalten können, und sich eine stabile therapeutische Beziehung entwickeln und aufrechterhalten werden kann.

Eine geringere Frequenz von Therapiesitzungen zieht nicht nur eine länger andauernde Behandlung nach sich, sondern hat auch einen Einfluss auf die Wirksamkeit der Psychotherapie. Neuere Forschung, aber auch älteren Studien zeigen, dass es weniger die Gesamtanzahl der Sitzungen ist, die einen Einfluss auf den Therapieeffekt hat, sondern die Frequenz, in der die Psychotherapie durchgeführt wird. So kann eine höhere Sitzungsfrequenz z. B. bei Angst- und Zwangsstörungen das störungsimmanente Vermeidungsverhalten minimieren und ein besseres psychotherapeutisches Monitoring der Patientinnen und Patienten ermöglichen.(10)

Auch zeigte sich bei in den letzten Jahren durchgeführten naturalistisch angelegten Studien in psychologischen Routinepraxen eine schnellere Verbesserung der Symptomatik und eine höhere Symptomreduktion bei wöchentlichen Sitzungen in Vergleich zu 14-tägigen Sitzungen.(11)

Eine Metaanalyse mit 210 Vergleichen aus 176 RCTs und 15.158 Teilnehmenden zum Zusammenhang zwischen Umfang und Häufigkeit von Psychotherapiesitzungen bei Erwachsenen mit Depression zeigte sogar etwas höhere Effektstärken für zwei Sitzungen/Woche (12), weswegen die Autoren empfehlen, eher kürzere Therapien mit einer höheren Frequenz durchzuführen.

Vor dem Hintergrund der weitreichenden Evidenz fordert der GKV-Spitzenverband die stärkere Anpassung der Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie an die Forschung psychotherapeutischer Behandlung, damit Psychotherapieeffekte bei den Patientinnen und Patienten ihre optimale Wirkung entfalten können.

Gruppentherapie muss stärker in der Versorgungslandschaft verankert werden

Struktureller Handlungsbedarf wird von den gesetzlichen Krankenkassen auch bei der Gestaltung der Versorgungslandschaft gesehen. Die Gruppentherapie wurde in den letzten Jahren durch verschiedene Aufträge des Gesetzgebers an die Selbstverwaltung gefördert. Neben einer Anhebung der Vergütung und des Übergangs des Ausfallrisikos auf die Krankenkassen (bei einer potenziellen Absage von Patientinnen oder Patienten), sind auch die Rahmenbedingungen für die Erbringung von Gruppentherapien verbessert worden bspw. durch die Absenkung der Gruppengrößen bei den psychodynamischen Verfahren oder die Anpassung der Begutachtungspflichten. Diese Anpassungen haben offenbar positive Wirkung gezeigt, denn der Anteil der abgerechneten antragspflichten Gruppentherapieleistungen (Kapitel 35.2 Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM)) ist von etwa 1,5 % auf knapp 6 % angestiegen. Da im gleichen Zeitraum auch ein deutlicher Anstieg bei den antragspflichtigen Einzelleistungen festgestellt werden kann, ist die Verdreifachung gruppenpsychotherapeutischer Leistungen durchaus beachtlich.

Abbildung 4: Entwicklung des Anteils gruppenpsychotherapeutischer Leistungen
an allen antragspflichtigen psychotherapeutischen Leistungen

Aus Sicht der gesetzlichen Krankenkassen ist eine Ausweitung gruppentherapeutischer Angebote jedoch weiterhin wünschenswert. In einer Vielzahl an Studien wurde nachgewiesen, dass die Wirksamkeit von Gruppentherapie und Einzeltherapie als gleichwertig angesehen werden kann.(13) Zudem hat Gruppentherapie den Vorteil, dass Krankheitsbestandteile, die ein sozialphobisches Verhalten verstärken, unmittelbar adressiert werden können und gerade neue Gruppenmitglieder die Gruppe schnell als einen stärkenden Ort erleben.

Die bisherige Ausbildung zur Psychotherapeutin oder zum Psychotherapeuten sah nicht vor, dass mit dem Erwerb der Approbation auch die Fachkunde zur Erbringung von Gruppentherapie verknüpft war. Dies wurde mit der Einführung der Weiterbildung zur Fachpsychotherapeutin oder Fachpsychotherapeuten verändert. Aufgrund der bisherigen Strukturen verfügt der überwiegende Anteil der niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nicht über die Fachkunde zur Erbringung von Gruppentherapie. Hier sehen die gesetzlichen Krankenkassen Handlungsbedarf; es ist erforderlich, dass bei der Nachbesetzung von Zulassungen die Kandidatinnen oder Kandidaten Vorrang haben, die bereit sind, konkreten Versorgungserfordernissen zu begegnen. Die in § 103 Absatz 4 SGB V definierten Kriterien wie beispielsweise Approbationsalter oder Dauer der ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Tätigkeit sollten im Sinne einer ausgewogenen und flächendeckenden Versorgung in den Hintergrund treten.

Versorgungsaufträge müssen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen einheitlich auf Erfüllung überprüft werden

Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind gemäß § 95 Abs. 3 SGB V verpflichtet, die Einhaltung der Versorgungsaufträge nach bundeseinheitlichen Maßstäben zu überprüfen. Diese Prüfung erfolgt in der Umsetzung jedoch regional stark divergierend; ausgehend von dem im Bundesmantelvertrag – Ärzte definierten Mindestsprechstundenumfang von 25 Stunden/Woche werden völlig unterschiedliche Zeiten für mögliche krankheits-, urlaubs- und fortbildungsbedingte Abwesenheiten abgezogen. Darüber hinaus wird in einigen Kassenärztlichen Vereinigungen die Unterschreitung dieses bereits bereinigten Referenzwertes um weitere 25 % toleriert. Die Methodik ist für die Landes- und Zulassungsausschüsse (und damit indirekt auch für die gesetzlichen Krankenkassen) inhaltlich nicht nachvollziehbar; die Berichte an die Landes- und Zulassungsausschüsse sowie an die für die jeweils zuständige Aufsichtsbehörde sind in ihrer Aussagekraft nicht klar und transparent.

Die Bedarfsplanung soll einen gleichmäßigen und bedarfsgerechten Zugang zur haus- und fachärztlichen Versorgung ermöglichen. Die dauerhafte Abweichung von den mit der Zulassung verknüpften Versorgungsaufträgen wirkt diesem Ziel entgegen.

Der GKV-Spitzenverband fordert daher, dass verbindliche Vorgaben für eine bundeseinheitliche Prüfung und Bewertung der Versorgungsaufträge sowie für eine Darstellung in einheitlicher Berichtsform im Bundesmantelvertrag – Ärzte festgelegt werden. Diese müssen neben den methodischen Grundlagen der Prüfung auch Regelungen zur inhaltlichen und adressatengerechten Ausgestaltung der Ergebnisberichte an die Landes- und Zulassungsausschüsse, die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen sowie an die zuständige Aufsichtsbehörde enthalten.

Die psychotherapeutische Weiterbildung muss koordiniert und abgestimmt erfolgen

Die bisherige Ausbildung (14) im Bereich der Psychologischen Psychotherapie und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wurde im Anschluss an das Hochschulstudium an Hochschulen oder anderen Einrichtungen vermittelt, die als Ausbildungsstätten staatlich anerkannt waren. Mit Inkrafttreten des neuen Psychotherapeutengesetzes zum 1. September 2020 ist eine Weiterbildung zur Fachpsychotherapeutin oder zum Fachpsychotherapeuten im Anschluss an das Studium vorgesehen. Anders als die bisherigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Ausbildung erhalten die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Weiterbildung mit Abschluss des Studiums und der erfolgreich abgelegten staatlichen Prüfung eine Approbation, die Weiterbildung soll nun im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses erfolgen.

Die gesetzlichen Krankenkassen vergüten, wie bisher auch, die psychotherapeutischen Leistungen im Rahmen der Weiterbildung; in der Vergangenheit wurde die GKV-Vergütung oftmals durch das Ausbildungsinstitut einbehalten. Im Zuge des neuen Psychotherapeutengesetzes wurden auch Regelungen zur Finanzierung der Weiterbildung aufgenommen. So wurden die Ambulanzen verpflichtet, einen Anteil der GKV-Vergütung für die durch die Aus- bzw. Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erbrachten Leistungen in Höhe von mindestens 40 % an die Aus- und Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer zu zahlen.

Abbildung 5: Entwicklung der abgeschlossenen Ausbildungen
im Bereich Psychotherapie und der Facharztanerkennungen

Die Anzahl der abgeschlossenen Ausbildungen im Bereich der Psychologischen Psychotherapie und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hat sich allein zwischen 2010 und 2020 mehr als verdoppelt.(15) 2023 wurden ca. 3.500 Absolventinnen und Absolventen gezählt, von denen nur etwa 1.500 Kandidatinnen und Kandidaten in die vertragsärztliche Versorgung gelangen können. Die Proklamation eines möglichen Mangels an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten kann angesichts eines jährlichen Überhangs von etwa 2.000 Personen nicht nachvollzogen werden. Es ist daher notwendig, dass der Gemeinsame Bundesausschuss zukünftig im Rahmen der Bedarfsplanung Vorgaben zur Steuerung der Aus- und Weiterbildungskapazitäten im Bereich der ambulanten Psychotherapie trifft.

Die Digitalisierung muss zielgenau weiterentwickelt werden

Der Gesetzgeber hat mit dem Digitalisierungsgesetz bereits erste Schritte für eine Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Versorgung mit digitalen Lösungen vorgegeben, die eine Leistungserbringung insbesondere für Menschen in komplexen Lebenssituationen oder mit Behinderungen erleichtert. Digitalisierung ist jedoch nicht nur im Rahmen der unmittelbaren Leistungserbringung wichtig, so sind weitere Schritte erforderlich.

Die Aufgabe des Antrags- und Gutachterverfahrens in der ambulanten Psychotherapie besteht in der Überprüfung der Art und des Umfangs sowie der Prognose einer geplanten Richtlinienpsychotherapie. Die mit der Genehmigung des Antrages durch die gesetzlichen Krankenkassen einhergehende vorgezogene Wirtschaftlichkeitsprüfung schafft einerseits einen sicheren Rahmen für die geplante psychotherapeutische Behandlung und ermöglicht anderseits eine Behandlungsplanung, die ein strukturiertes Vorgehen der Psychotherapeutin oder des Psychotherapeuten fördert, sowie bei den Patientinnen und Patienten ein Verständnis für die anstehende Behandlung schafft.

Die Digitalisierung des Antrags- und Gutachterverfahrens kann sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für die ärztlichen und psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einen Vorteil bieten, da Prozessabläufe optimiert und erheblich beschleunigt werden können. Die aktuellen Regelungen des SGB V sehen eine Digitalisierung im Bereich der ambulanten Psychotherapie jedoch nicht vor. Der GKV-Spitzenverband fordert daher, dass eine gesetzliche Grundlage für ein verpflichtendes digitales Antrags- und Genehmigungsverfahren in § 87 Absatz 1 SGB V geschaffen wird und dass der Selbstverwaltung ein Auftrag zur Überprüfung des Antrags- und Gutachterverfahrens durch die Anpassung des § 92 Absatz 6a Satz 6 SGB V erteilt wird.

Neben diesem wichtigen Baustein gibt es weiteren Handlungsbedarf. Die Digitalisierung ermöglicht eine Vereinfachung der Abläufe auch bei der Beendigung einer Behandlung. Fehlende Beendigungsmitteilungen können zu Schwierigkeiten bei der Prüfung neuer Anträge führen und unnötige Bürokratie verursachen. Vor diesem Hintergrund sollte eine automatisierte Beendigungsmitteilung an die Krankenkassen übermittelt werden, wenn eine Richtlinientherapie für sechs Wochen unterbrochen wird und die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut dem nicht explizit widersprochen hat.

Ausblick: Ziel der gesetzlichen Krankenkassen ist es, das international einmalige psychotherapeutische Versorgungsangebot aufrecht zu erhalten und konstruktiv weiterzuentwickeln

Die vergangenen Jahre waren von einem kontinuierlichen Ausbau und einer Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Versorgung geprägt, vor dem Hintergrund der aktuellen Kassenlage wird deutlich, dass ein „Weiter so“ keine Zukunft haben wird.

Die einseitige Herangehensweise einer schlichten Leistungsausweitung hat viele Probleme in der Versorgung nicht bewältigen können, und das System steht nun vor dem Hintergrund des starken Kostenanstiegs der letzten Jahrzehnte an einem Wendepunkt: Ziel muss es sein, das qualitativ hochwertige psychotherapeutische Angebot im Gesundheitswesen nicht nur zu erhalten, sondern zukunftsfähig weiterzuentwickeln. Dafür sind ein bedarfsgerechter Einsatz der vorhandenen Mittel, eine noch stärkere Nutzung digitaler Möglichkeiten und eine konsequente Orientierung an den Bedürfnissen aller Patientengruppen entscheidend. Nur so kann gewährleistet werden, dass psychotherapeutische Leistungen auf hohem Niveau und für alle Versicherten gleichermaßen zugänglich bleiben.

Literatur

(1) Die Studie zur Gesundheit Erwachsener (DEGS) wurde im Zeitraum 2008-2011 durchgeführt. Jacobi, Frank et al (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt. DOI: 10.1007/s00115-013-3961-y.
(2) Die administrative Prävalenz wird auf Basis von Routinedaten und somit nicht unter Verwendung von klinischen Erhebungen ermittelt.
(3) Steffen, Annika et al. (2020): Trends in prevalence of depression in Germany between 2009 and 2017 based on nationwide ambulatory claims data. Journal of Affective Disorders. DOI: 10.1016/j.jad.2020.03.082.
(4) vgl. Entwicklung der selbsteingeschätzten psychischen Gesundheit anhand der National Mental Health Surveillance des RKI, https://www.rki.de/DE/Themen/Nichtuebertragbare-Krankheiten/Studien-und-Surveillance/Studien/MHS/mhs_inhalt.html
(5) Vgl. BPtK-Studie zu Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung, Umfrage der Landespsychotherapeutenkammern und der BPtK, 2011.
(6) § 2 Abs. 1 PT-RL.
(7) Vgl. Roth, M. & Steins, G. (2024). Anmerkungen zur Problematik fehlender Psychotherapieplätze. Psychologische Rundschau, 75, 289–300. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000678, Freyberger, H. & Linden, M. (2016). Die Entscheidung über die Notwendigkeit ist komplex. Dtsch Arztebl 2014; 111(45): A 1954–5.
(8) Padberg, Thorsten (2025). Die Macht der Diagnosen. Psychotherapeutenjournal 1/2025. S. 4-11.
(9) Vgl. hierzu z.B. Böker & Hentschel, 2023: In einer großen quantitativen Auswertung wird ausgeführt, dass durchschnittlich 6,4 Einheiten Akutbehandlung (jeweils 50 Minuten) innerhalb von 2,5 Quartalen durchgeführt werden. Folglich handelt es sich um 6 Sitzung in einem Zeitraum von ca. 7-8 Monaten, dies entspricht etwa einer Sitzung pro Monat. Weiterhin wird ausgeführt, dass 24 Sitzungen Verhaltenstherapie und 26,5 Sitzungen Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie durchschnittlich in 5,6 Quartalen durchgeführt werden. Daraus ergibt sich also ein zeitlicher Abstand von 2-3 Wochen zwischen den Sitzungen. (10) Keane, I., & Smout, M. F. (2024). Session frequency in routine psychology practice and perspectives on session scheduling: a mixed-methods study of clinician attitudes and practices. Australian Psychologist, 1-13.
(11) Vgl. z. B. Erekson, D. M., Lambert, M. J., & Eggett, D. L. (2015). The relationship between session frequency and psychotherapy outcome in a naturalistic setting. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 83(6), 1097; Tiemens, B., Kloos, M., Spijker, J., Ingenhoven, T., Kampman, M., & Hendriks, G. J. (2019). Lower versus higher frequency of sessions in starting outpatient mental health care and the risk of a chronic course; a naturalistic cohort study. BMC psychiatry, 19, 1-12; Erekson, D. M., Bailey, R. J., Cattani, K., Klundt, J. S., Lynn, A. M., Jensen, D., ... & Worthen, V. (2022). Psychotherapy session frequency: A naturalistic examination in a university counseling center. Journal of Counseling Psychology, 69(4), 531; Keane, I., & Smout, M. F. (2024). Session frequency in routine psychology practice and perspectives on session scheduling: a mixed-methods study of clinician attitudes and practices. Australian Psychologist, 1-13.
(12) Ciharova, M., Karyotaki, E., Miguel, C., Walsh, E., de Ponti, N., Amarnath, A., ... & Cuijpers, P. (2024). Amount and frequency of psychotherapy as predictors of treatment outcome for adult depression: A meta-regression analysis. Journal of affective disorders.
(13) Vgl. bspw. Barkowski S. et al. 2020. Efficacy of group psychotherapy for anxiety disorders: A systematic review and meta-analysis; Schwartze, D., Barkowski, S., Strauss, B., Knaevelsrud, C., & Rosendahl, J. (2019). Efficacy of group psychotherapy for posttraumatic stress disorder: Systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Psychotherapy Research, 29(4), 415-431; Lo Coco et al. (2019). Group Treatment for substance use disorder in adults: A systematic review and meta-analysis of randomized-controlled trials.
(14) Mit dem Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz vom 15. November 2019 wurde die Ausbildung der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten grundlegend verändert. Seit dem 1. September 2020 erhalten die Absolventinnen und Absolventen eines Psychotherapie-Studiums bereits eine Approbation. Für eine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung ist zusätzlich zum Abschluss des Studiums eine Weiterbildung zur Fachpsychotherapeutin oder Fachpsychotherapeuten notwendig. Bisher erfolgte im Anschluss an das Studium eine verfahrensspezifische Ausbildung; erst mit erfolgreichem Erwerb der Fachkunde wurde die Approbation erteilt.
(15) Das IMPP (Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen) erfasst in seinen Berichten nur die Ausbildungen im Bereich Psychologische Psychotherapie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie; Angaben zu möglichen abgeschlossenen Weiterbildungen zur Fachpsychotherapeutin oder zum Fachpsychotherapeuten sind derzeit noch nicht enthalten.

Über den Autoren und die Autorin

Dr. Julian Dilling

Dr. Julian Dilling, Autor des Beitrages

Dr. Julian Dilling ist Sprecher der Krankenkassen im Unterausschuss Psychotherapie und psychiatrische Versorgung sowie im Unterausschuss Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und Leiter des Referats Bedarfsplanung, Psychotherapie und Neue Versorgungsformen im GKV-Spitzenverband.

Janett Engel

Janett Engel ist Fachreferentin im Referat Bedarfsplanung, Psychotherapie und Neue Versorgungsformen der Abteilung Ambulante Versorgung beim GKV-Spitzenverband und Vertreterin der Krankenkassen im Unterausschuss Psychotherapie und psychiatrische Versorgung.

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