Unternehmen drohen mit Marktrücknahme von Produkten
Mehrere Unternehmen haben nun angegeben, dass sie aufgrund der mit der Neuzertifizierung verbundenen Kosten und aufgrund des erhöhten Aufwands die Marktrücknahme ihrer Produkte erwägen. Allerdings gibt es auch zum tatsächlichen Ausmaß dieser Abkündigungen vom Markt nur wenige verlässliche Quellen. Eine gewisse Konsolidierung des Marktes war im Zusammenhang mit der neuen Verordnung immer zu erwarten, denn es ist selbstverständlich anzunehmen, dass Produkte, die nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen oder vor kurzem durch neuere Entwicklungen abgelöst wurden, von ihren herstellenden Unternehmen nicht neu zertifiziert werden. Es gibt jedoch auch Berichte, dass Produkte abgekündigt werden, die versorgungsrelevant sein könnten. Für eine genaue Analyse dieses Problems fehlen allerdings konkrete Daten. Es gibt nicht einmal belastbare Zahlen darüber, in welcher Größenordnung durch die neue Verordnung die Zertifizierungskosten bei den Benannten Stellen gestiegen sind. Im Einzelfall wird von Kostensteigerungen um das Doppelte, das Zehnfache oder gar das Hundertfache berichtet, sodass teilweise sechsstellige Zertifizierungskosten anfallen würden.
Hersteller waren und sind immer verpflichtet, Produktsicherheit zu garantieren
Mehrere Unternehmen und auch Stimmen aus der Politik beklagen außerdem, dass durch die Vorgaben der neuen Verordnung auch mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand „klinische Prüfungen mit etablierten Medizinprodukten durchgeführt werden müssten, die sich jahrelang im Markt bewährt“ hätten (z. B. Landesregierung Baden-Württemberg 2022). Diese Kritik ist insofern irritierend, als dass herstellende Unternehmen auch nach altem Recht immer verpflichtet waren, ihre Produkte auf dem Markt zu beobachten und deren Sicherheit und Leistungsfähigkeit zu überwachen. Demzufolge hätte nicht nur die Möglichkeit, sondern eigentlich auch die Pflicht bestanden, im Laufe der letzten Jahre klinische Daten zur Leistungsfähigkeit der fraglichen Produkte zu sammeln. Spätestens seit Inkrafttreten der neuen EU-Verordnung im Mai 2017 musste den Unternehmen auch klar sein, was auf sie zukommt – und sieben Jahre sind aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes eine ausreichende Zeit gewesen, um die notwendigen Daten auch ohne großen Mehraufwand zu generieren.
Versorgungssicherheit ist immer zu gewährleisten
Selbstverständlich muss die medizinische Versorgung der gesetzlich Versicherten mit sicheren und leistungsfähigen Medizinprodukten jederzeit gewährleistet sein. Klar ist auch, dass die MDR grundlegende Änderungen im Prüf- und Zulassungsprozess von Medizinprodukten mit sich bringt. Die Änderungen sind politisch gewollt und haben das Ziel, Qualität, Sicherheit und Leistungsfähigkeit und damit den patientenrelevanten Nutzen der Produkte insgesamt besser zu gewährleisten als früher. Dieses Ziel ist aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes zentral. Wie eingangs erwähnt, zeigen viele konkrete Beispiele rund um die Skandale der Vergangenheit, dass es ein erhebliches Qualitätsdefizit im EU-Medizinprodukterecht gab und dass dringender Handlungsbedarf bestand. Aus Sicht des GKV-Spitzenverbands ist es daher nicht zielführend, jetzt über grundlegende inhaltliche Änderungen an der Verordnung zu diskutieren. Stattdessen müssen so schnell wie möglich Daten auf den Tisch, die eine verlässliche Grundlage für eine Bewertung des tatsächlichen Ausmaßes des Problems darstellen.
Vorschlag für gezielte Maßnahmen zur Lösung von Problemen
Parallel dazu sollten Maßnahmen getroffen werden,
- die eine optimale Nutzung der bestehenden Ressourcen durch Optimierung der Prozesse bei den Benannten Stellen sicherstellen, um in der verbleibenden Zeit so viele Zertifikate wie möglich zu bearbeiten und zu erneuern,
- die den Benennungsprozess von weiteren Benannten Stellen beschleunigen, um die Kapazitäten schnellstmöglich auszubauen und
- die klarere und einheitlichere Regeln für die klinische Bewertung von Bestandsprodukten vorgeben, um Medizintechnikunternehmen und Benannten Stellen die Sammlung und Auswertung der notwendigen klinischen Daten zu erleichtern.
Einige Empfehlungen zur Umsetzung genau dieser Maßnahmen wurden kürzlich von der zuständigen Koordinierungsgruppe Medizinprodukte bei der EU-Kommission (Medical Devices Coordination Group, MDCG) veröffentlicht (MDCG 2022). Die veröffentlichten Vorschläge sind begrüßenswert und bilden eine gute Grundlage für die weitere Debatte. Dafür sollten nun kurzfristig möglichst detaillierte Informationen über geplante Produktabkündigungen und ihre mögliche Versorgungsrelevanz durch die EU-Kommission gesammelt und durch die MDCG ausgewertet werden. Für Unternehmen, die aus ökonomischen Erwägungen heraus trotz bestehender dringlicher Versorgungsrelevanz ihrer Produkte eine Marktrücknahme erwägen oder die von einer Markteinführung in Europa absehen, sollten wirtschaftliche Anreize erwogen werden, die ein Inverkehrbringen nach den Regeln der neuen MDR dennoch attraktiv machen. Diese Anreize dürfen jedoch nicht auf Kosten der Vorgaben an die klinische Bewertung und an den Nachweis der Sicherheit und Leistungsfähigkeit der Produkte gehen. Denkbar wären hier Zertifizierungen mit Auflagen, die eine Anwendung mit gleichzeitiger Gewinnung von ggf. für eine abschließende Bewertung noch ausstehenden klinischen Daten ermöglichen.
Eine bloße Fristverlängerung oder verlängerte Aussetzung des Geltungsbeginns der Verordnung sollte nicht erfolgen. Stattdessen könnte für Bestandsprodukte, für die eine Neuzertifizierung bis zum Fristende im Mai 2024 nicht zu erreichen ist, eine Sonderregelung geschaffen werden. Beispielsweise könnten Hersteller, die nachweisen können, dass sie die Bewertung ihrer Produkte bei einer Benannten Stelle beantragt haben, für einen befristeten Zeitraum bis zum Vorliegen der abschließenden Bewertung dieser Benannten Stelle eine Ausnahmegenehmigung für die Weitervermarktung dieser Produkte erhalten. Kanada hat für ein ähnlich gelagertes Problem diesen Lösungsweg mit Erfolg beschritten (Government of Canada 2018). (mde)