Mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) wurde für alle Hämophilie-Arzneimittel in der ambulanten Versorgung der bisherige direkte Vertriebsweg vom Hersteller über Versorgungszentren abgeschafft. Seit dem 1. September 2020 müssen Hämophilie-Patientinnen und -patienten nicht mehr zur Bevorratung mit Arzneimitteln in Zentren reisen, sondern erhalten diese in der Apotheke vor Ort. Die Verlagerung in den regulären Abgabeort „Apotheke“ machte zunächst eine Preisneuordnung in zwei Phasen notwendig, da nicht alle Hämophilie-Präparate öffentlich Preise gelistet hatten oder die gelisteten Preise nicht Grundlage der tatsächlich abgerechneten Kosten mit den Krankenkassen waren. In der ersten Phase wurden alle 33 Produkte aus dem patentfreien „Bestandsmarkt“ aus der Vertraulichkeit privater Ankaufverträge in die Transparenz der Arzneimittelpreisverordnung überführt. Aufgrund des Gesetzes wurden von September 2019 bis August 2020 durch den GKV-Spitzenverband die tatsächlichen Herstellerabgabepreise erhoben und anschließend durch die Hersteller zum 1. September 2020 in den Preis – und Produktverzeichnissen gemeldet. Mittlerweile ist auf dieser Basis nun transparenter Preise die zweite Phase gestartet: Auf Grundlage eines gesetzlichen Sonderkündigungsrechts konnten die bestehenden Erstattungsbetragsvereinbarungen für die neuen Wirkstoffe gekündigt werden. Die Abgabepreise im Marktsegment der patentgeschützten Arzneimittel zur spezifischen Therapie von Gerinnungsstörungen werden nun auf Basis der seit dem 1. September 2020 geltenden Preise für die Bestandsmarktprodukte im Rahmen des AMNOG-Verfahrens neu verhandelt.

Damit zusammenhängende Folgeregelungen betrafen die Berechnung der Zuzahlungsregelungen, die Klarstellung der Anwendbarkeit des Preismoratoriums für diese Produkte, neue Pflichtverträge zwischen den Kassen und Versorgungszentren zur Vergütung für hämophiliespezifische ärztliche Leistungen wie die Dokumentationsmeldungen an das Deutsche Hämophilieregister (DHR), eine Erweiterung der Datenerfassung durch das DHRs sowie eine Einbindung der Apotheken in die Meldung an das DHR.

Das Krankheitsbild der Hämophilie

Wer an Hämophilie erkrankt ist, für den ist eine lebenswichtige Selbstverständlichkeit relativiert: Wenn Menschen stürzen, sich dabei verletzten, verschließt normalerweise die Blutgerinnung die Wunde durch ein Gewebenetz. Die Blutgerinnung wird durch ein komplexes Zusammenspiel von im Blut inaktiv vorliegenden Gerinnungsfaktoren erzeugt, die erst bei einer Schädigung von Körpergewebe durch Signalproteine in einer sogenannten Gerinnungskaskade aktiviert werden. An Hämophilie Erkrankten fehlt aufgrund genetischer Veränderung ein Faktor in dieser Kaskade. Wunden schließen sich langsamer, Blutungen aus Gewebeschädigungen dauern an.

Für Hämophilie-Patientinnen und -Patienten können bereits ein lediglich aufgeschürftes Knie oder ein Schnitt beim Basteln in die Hand potenziell bedrohlich sein. Die vermutlich erste dokumentierte Beschreibung der Hämophilie ist datiert aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus und findet sich im Talmud in der Verfügung, dass der dritte Sohn einer Familie nicht mehr zu beschneiden sei, nachdem seine zwei Brüder nach der Beschneidung bereits verblutet waren (Schramm, 2014, S. 4). Im 19. Jahrhundert wurde die Hämophilie bekannt als „Krankheit der Könige“, da einige Mitglieder verschiedener europäischer Königshäuser daran litten und verstarben (Bidlingmaier/Olivieri K. Kurnik, 2007, S. 14). Bei inneren Verletzungen kann Blut in das Innere von Gelenken gelangen: Entzündungen und starke Schmerzen sind erste akute sowie Gelenkverschleiß und – schäden (Hämarthrosen), Muskelschwäche und Immobilität schwerwiegende langfristige Folgen.

Von der Krankenhausbehandlung in die ärztlich kontrollierte Heimselbstbehandlung

Dreh- und Angelpunkt des regulativen Rahmens für die Versorgung in der Hämophilie ist schon immer der Vertriebsweg für die Hämophilie-Präparate gewesen. Der bis zum 31. August 2020 zulässige Sondervertriebsweg von den Herstellern über die Hämophilie-Versorgungszentren bzw. Ärztinnen und Ärzte an die Patientinnen und Patienten war historisch aus der Entwicklung der Versorgungsmöglichkeiten heraus entstanden: Bis in die 1970iger-Jahre gab es lediglich die Therapieoption der Infusion mit Blut oder Plasma(-konzentrat), um den fehlenden Gerinnungsfaktor zu ersetzen. Die Versorgung fand ausschließlich im Krankenhaus statt. Aufgrund der geringen Haltbarkeit der damaligen Blutzubereitungen sollten diese ohne Zeitverlust durch Umweg über die Apotheke zu den Patientinnen und Patienten gelangen (2. AMGÄndG, BT-Drucksache IV/1370, S. 8). 1961 wird daher im Arzneimittelgesetz für aus menschlichem Blut gewonnene Blutzubereitungen geregelt, dass Hersteller die Krankenhäuser direkt beliefern dürfen.

Mit Zulassung der haltbareren Gerinnungsfaktorzubereitungen in den 1970iger-Jahren wird die vorbeugende Dauerbehandlung nach dem Behandlungskonzept der sogenannten ärztlich kontrollierten Heimselbstbehandlung durch Patientinnen und Patienten möglich. Dieses Behandlungskonzept sieht vor, dass die Erkrankten selbst unter ärztlicher Aufsicht mit der Injektion in die Vene vertraut gemacht werden. Die Faktorpräparate werden dann den Patientinnen und Patienten in ausreichender Menge für einige Wochen zur prophylaktischen Gabe und auch für etwaige Notfälle zur Selbstapplikation mit nach Hause gegeben. Das Recht hielt mit dieser Entwicklung des Versorgungsgeschehens nicht Schritt – fast über 30 Jahre lang nicht (UA Blutprodukte, Schlussbericht 1994, BT-Drs. 12/8591, S. 253). Denn: Eine Befugnis der Ärztinnen und Ärzte, die Präparate an die Erkrankten zur heimischen Selbstanwendung weiterzugeben, ein sogenanntes Dispensierrecht, wird erst mit dem Transfusionsgesetz vom 7. Mai 1998 geschaffen (TFG 1998, BT-Drs. 13/9594, S. 30).

Der „Stein des Anstoßes“ für einen anderen Vertriebsweg

Der Anlass für eine Verlagerung des Vertriebs von Hämophilie-Präparaten in den regulären Abgabeweg über die Apotheke war die Zulassung des Arzneimittels Hemlibra im Jahr 2018. Mit dem monoklonalen Antikörper Emicizumab als Wirkstoff fiel das Arzneimittel nicht in den Anwendungsbereich des Sondervertriebswegs für „Blutzubereitungen“ oder „gentechnologisch hergestellter Blutbestandteile“. Es konnte daher ausschließlich über die Apotheke abgegeben werden.

Dies bedeutete zunächst einen Wettbewerbsnachteil für den Hersteller. Der Hintergrund ist, dass die abgabebefugten Zentren bzw. Ärztinnen und Ärzte für den Bezug der Präparate vertrauliche Kaufverträge mit den pharmazeutischen Unternehmern schlossen. Manches Zentrum generierte Margen zur Eigenfinanzierung, indem es verschiedene Produkte bei unterschiedlichen Unternehmen mit unterschiedlichen, an das Einkaufsvolumen gekoppelten Zusatzrabatten preiswert einkaufte, eine Mischkalkulation anstellte und dann mit diesem Durchschnittseinkaufspreis, ggf. mit einem weiteren Aufschlage den Krankenkassen in Rechnung stellte (UA Blutprodukte 1994, Schlussbericht, BT-Drs. 12/8591, S. 247, 249ff.; SV Gutachten-Add Wirtschaftlichkeit 2000/2001, S. 52). Aus ökonomischen wie rechtlichen Gründen wären die vertragsgebundenen Faktor-Produkte ggf. bevorzugt worden.

In der Folge bestand aber auch die Sorge, dass Hämophilie-Patientinnen und-Patienten nicht ausreichend mit Emicizumab versorgt werden würden. Gerade für Patientinnen und Patienten, die sogenannte Hemmkörper gegen die herkömmlichen Faktorpräparate bereits entwickelt hatten, stellt Emicizumab eine neue Option dar. Die Hemmkörper senken die Wirkung der verabreichten Präparate bis zur Wirkungslosigkeit (Wight/Paisley, 2003). Ab 2019 war Emicizumab auch für Patientinnen und Patienten ohne Hemmkörper zugelassen. Letztlich um Wettbewerbsgleichheit für alle Arzneimittel zur spezifischen Therapie von Gerinnungsstörungen zu schaffen und den Zugang zur Versorgung mit dem neuen Arzneimittel sicherzustellen, beschloss der Gesetzgeber des GSAV, den ambulanten Vertrieb von Hämophilie-Arzneimitteln ab dem 1. September 2020 ausschließlich über die Apotheken zu organisieren (GSAV, Gesetzesentwurf, BT-Drs. 19/8753, S. 2). Aufgrund der Vergleichbarkeit der Produkte in Bezug auf Haltbarkeit oder Sicherheit gab es zudem seit längerem schon keine sachliche Rechtfertigung mehr für einen unterschiedlichen Vertriebsweg zu anderen Produkten (vgl. zum vergleichbaren Anforderungsprofil von plasmatisch oder gentechnologisch hergestellten Blutbestandteilen bei Transport und Lagerung wie Impfstoffen: Stellungnahme des Apothekerverbandes zum Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 6.09.1993, dokumentiert in UA Ausschuss, Zwischenbericht 1994, BT-Drs. 12/6700, S. 63; vgl. zum vergleichbaren Infektionsrisiko bei plasmatisch oder gentechnologisch hergestellten: vfa, Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Gesundheit für ein Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) vom 12.12.2018).

Mit dem GSAV neue Wege in der Hämophilie-Versorgung beschreiten

Insgesamt wurden mit dem GSAV zur Neuordnung der Versorgung in der Hämophilie in verschiedenster Hinsicht neue Wege eröffnet und gegangen. Es wurde ein komplexes Neuordnungsgesetzespaket beschlossen, über das im Folgenden ein Überblick gegeben werden soll.

Die Preisneuordnung im Hämophilie-Markt

Mit dem neuen Vertriebsweg über die Apotheke war die Frage verbunden: Abgabe in der Apotheke zu welchem Preis? Zudem fallen bei Abgabe in der Apotheke Großhandels– und Apothekenzuschläge an. Auf Basis welchen Preises sollten diese berechnet werden? Zu manchen Produkten existierten keine öffentlich gelisteten Preise; zu anderen gab es diese zwar, das gelistete Preisniveau entsprach aber weder den von den Krankenkassen tatsächlich gezahlten Preisen noch den Einkaufspreisen der Zentren bei den Herstellern. Die gelisteten Preise für die Berechnung der Großhandels– und Apothekenzuschläge oder anfallenden Herstellerabschläge der pharmazeutischen Unternehmen heranzuziehen, kam nicht infrage. Die gelisteten Preise lagen nach Berechnungen des GKV-Spitzenverbandes 2019 im Mittel ca. 17 % über dem Mittel der tatsächlich abgerechneten Preisen mit den Krankenkassen. Sowohl die Krankenkassen als auch die Unternehmer hätten auf einer falsch hohen Basis zu hohe Handelszuschläge oder Herstellerabschläge geleistet. Um die Preise für Arzneimittel zur spezifischen Therapie von Gerinnungsstörungen auf den Boden der Tatsachen und in die Transparenz der Arzneimittelpreisverordnung zurückzuholen, erteilte der Gesetzgeber den Auftrag, die Preise im Hämophilie-Markt in zwei Phasen neuzuordnen (siehe Abbildung 1): In Phase 1 findet eine Neuordnung der Preise im Bestandsmarkt statt, in Phase 2 werden die Preise der Arzneimittel im patentgeschützten AMNOG-Bereich neu verhandelt.

Darstellung von Phase 1 und 2 der Preisneuordnung im Hämophilie-Arzneimarkt

Phase 1: Preisneuordnung führt Bestandsmarkt in die Transparenz

In der ersten Phase von September 2019 bis August 2020 (in Abbildung 1 blau dargestellt) erhielt der GKV-Spitzenverband den gesetzlichen Auftrag, eine datenbasierte Preisermittlung für Arzneimittel zur spezifischen Therapie von Gerinnungsstörungen aus dem Bestandsmarkt, d. h. die vor dem 1. Januar 2011 in Deutschland in den Verkehr gebracht wurden, durchzuführen. Der Gesetzgeber verpflichtete sowohl die pharmazeutischen Unternehmen als auch die Krankenkassen, ihre tatsächlich vereinbarten bzw. abgerechneten Preise mit den jeweils darauf bezogenen Mengen zu dem jeweiligen Produkt an den GKV-Spitzenverband zu übermitteln.

Statt einer hoheitlichen Festsetzung wählte der Gesetzgeber den Weg, das pharmazeutische Unternehmen dazu zu verpflichten, bis Ende November 2019 den oder die zukünftigen Preis(e) für seine Produkte zunächst selbst zu ermitteln, indem es auf Basis der tatsächlich von ihm vereinbarten Preise und Mengen in den Jahren 2017 und 2018 einen Durchschnittspreis für beide Jahre errechnete. Diesen Wert sowie die zugrundeliegenden Einzeldaten hatte das Unternehmen an den GKV-Spitzenverband zur Prüfung der Plausibilität der Angaben zu übermitteln. Das Verfahren verlief nach den vorher im Benehmen mit den betroffenen Unternehmen und ihren Verbänden festgelegten Ermittlungsmethoden und -verfahren.

Ergebnisse der Preisneuordnung im Bestandsmarkt

Im Ergebnis konnte für alle Arzneimittel ein plausibler Preis gefunden werden. Die Unternehmen haben die entsprechenden Herstellerabgabepreise nach § 130d SGB V zur Veröffentlichung in den Preis- und Produktverzeichnissen ab dem 1. September 2020 gemeldet. Als Grund und Ziel für die Preisneuordnung gab der Gesetzgeber an, dass die „Wirtschaftlichkeitsreserven, die bislang im Wege der Direktabgabe des pharmazeutischen Herstellers nach § 47 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe a AMG erzielt werden konnten“ zu „heben“ seien (Gesetzentwurf GSAV, BT-Drs. 19/8753, S. 66). In Abbildung 2 sind die Herstellerabgabepreise nach § 130d SGB V ab dem 1. September 2020 und die vormalig gemeldeten Abgabepreise des pharmazeutischen Unternehmers (ApU) gegenübergestellt. Im Ergebnis liegt das mittlere gelistete Preisniveau am 1. September 2020 gegenüber dem zuvor gelisteten Preisniveau um 17 % niedriger. Die höchste Preisdifferenz lag bei -52,5 %. Es ist nun zu hoffen, dass die Neuverhandlungen die Preisneuordnung im Bestandsmarkt nun auch in den Patentmarkt übertragen können.

Die Grafik zeigt die Senkung des mittleren gelisteten Preisniveaus vor und nach dem 1. September 2020

Auf diese Preise findet das Preismoratorium Anwendung, d. h. im Rahmen eines nunmehr transparent möglichen Preiswettbewerbs können Unternehmen sich auch dafür entscheiden, ihre Preise unter den am 1. September 2020 gemeldeten Preis zu senken. Da nunmehr das reguläre Instrumentarium der Arzneimittelversorgung auch für diese Arzneimittel gilt, ist aber auch der Abschluss von Rabattverträgen zwischen Unternehmen und Krankenkassen möglich, durch die weitere Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen werden können.

Phase 2 der Preisneuordnung des Hämophilie-Marktes läuft seit 1. September 2020

In der zweiten Phase (in Abbildung 1 rot dargestellt) werden nun auf Basis der ab 1. September 2020 gemeldeten Preise die Erstattungsbeträge für patentgeschützte Arzneimittel bei Hämophilie neu verhandelt. Dem GKV-Spitzenverband sowie den pharmazeutischen Unternehmen wurde in § 130b Abs. 7a SGB V ab dem 1. September 2020 ein innerhalb von drei Monaten auszuübendes Sonderkündigungsrecht für bereits bestehende AMNOG-Vereinbarungen zu Hämophilie-Arzneimitteln eingeräumt. Der GKV-Spitzenverband hat für alle vom Gesetz umfassten Arzneimittel hiervon Gebrauch gemacht. Dabei handelt es sich um Arzneimittel, für die wegen erheblicher Datendefizite durchweg kein Zusatznutzen bestätigt werden konnte.

Hintergrund dieser Regelung ist, dass für die neuen patentgeschützten Wirkstoffe auch Arzneimittel aus dem Bestandsmarkt in den Nutzenbewertungsbeschlüssen als zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT) bestimmt worden waren. Der GKV-Spitzenverband konnte in den Verhandlungen bislang jedoch lediglich auf die überhöhten öffentlich bekannten Preise abstellen. Damit fungierten nicht abrechnungsrelevante, falsch hohe Listenpreise qua Gesetz als preisliche Obergrenze für neue Arzneimittel bei Hämophilie. In der Folge mussten Erstattungsbeträge in dieser Indikation auf überhöhtem Niveau akzeptiert werden. Es ist nun zu hoffen, dass die Neuverhandlungen die Preisniveausenkung im Bestandsmarkt auch in den Patentmarkt übertragen können (siehe Abbildung 3). Mit neuen Preisen im AMNOG-Marktsegment der Hämophiliepräparate ist aufgrund der im Dezember gestarteten Verhandlungen frühestens im zweiten Halbjahr 2021 zu rechnen.

Darstellung von Preisniveau- und Ausgabenentwicklung im Gesamtmarkt Hämophilie

Vorteile der Neuordnung für Betroffene

Mit dem GSAV ist der Lebensalltag der Hämophilie-Patientinnen und –Patienten und ihrem Lebensumfeld ein weiteres Stück normaler und weniger belastend geworden: Sie oder ihre Eltern können nun ihre Arzneimittel – wie andere Patientinnen und Patienten auch – einfach in der Apotheke vor Ort abholen. Bisher mussten Hämophilie-Patientinnen und Patienten teilweise Hunderte von Kilometern zur Abholung ihrer Präparate zum Zentrum in anderen Bundesländern zurücklegen. Abbildung 4 zeigt, welche Fahrtwege Hämophilie-Patientinnen und Patienten beispielsweise in das Ambulanzzentrum Münster auf sich nahmen.

Die Grafik zeigt die Anfahrtswege von Hämophilie-Patientinnen und -Patienten ins ITH Münster

Abbildung 4: Anfahrtswege von Hämophilie-Patientinnen und -Patienten ins ITH Münster

Fahrt- und Übernachtungskosten reduzieren sich nun auf die medizinisch indizierten Besuche. Zudem mindert der kurze Weg in die Apotheke auch Expositionsrisiken in öffentlichen Verkehrsmitteln oder durch überörtliche Kontakte. Auch die wohnortnahe Notversorgung durch Apotheken ist eine logistische Erleichterung für die betroffenen Patientinnen und Patienten sowie ihre Familien: Die Notfallversorgung von Hämophilie-Patientinnen und Patienten erfolgt im Konzept der Heimselbstbehandlung primär über die Vorräte, die sie bei sich zu Hause aufbewahren. Bei einer Blutung muss das Faktorkonzentrat sofort gespritzt werden, auch um Folgeschäden an den Gelenken zu vermeiden oder zu reduzieren. Sind nun die Vorräte aufgrund eines Notfalls aufgebraucht, können die Vorräte nun in der wohnortnahen Apotheke aufgefüllt werden. Die Fahrt ins ggf. weit entfernte Zentrum ausschließlich zur Bevorratung entfällt.

Sicherung und Fokussierung bewährter Versorgungsstrukturen in der Hämophilie auf die Behandlungsqualität

Mit der Abschaffung des regelhaften Vertriebswegs über die Zentren ist auch verbunden, dass die Arzneimittelentscheidung der behandelnden Ärztin bzw. des behandelnden Arztes von Erwägungen der Zentren zur Eigenfinanzierung beim Einkauf von Präparaten entkoppelt wurden und die Finanzierung der Zentren anderweitig gesichert wird. Dies entspricht einer in den vergangenen Jahrzehnten bereits mehrfach ausgesprochenen sachverständigen Empfehlungen (UA Blutprodukte, Zwischenbericht 1994, BT-Drs. 12/6700, S. 63; UA Blutprodukte, Schlussbericht 1994, BT-Drs. 12/8591, S. 247; SV Gutachten-Add 2000/2001, BT-DRs. 14/8205, S. 53).

Dem Erhalt der Zentren als anerkannter wichtige Versorgungsstruktur wird nun durch Vergütungsverträge zwischen Zentren und Krankenkassen Rechnung getragen: Mit dem GSAV hat der Gesetzgeber in § 132i SGB V eine neue Rechtsgrundlage für Verträge zwischen Zentren und Krankenkassen zur Vergütung von zusätzlichen, besonderen ärztlichen Aufwendungen zur medizinischen Versorgung und Betreuung von Patientinnen und Patienten mit Gerinnungsstörungen bei Hämophilie, insbesondere für die Beratung über die Langzeitfolgen von Gerinnungsstörungen, die Begleitung und Kontrolle der Selbstbehandlung, die Dokumentation nach § 14 des Transfusionsgesetzes und die Meldung an das Deutsche Hämophilieregister nach § 21 Absatz 1a des Transfusionsgesetzes sowie für die Notfallvorsorge und –behandlung geschaffen. Das Leitbild der ärztlich begleiteten Selbstbehandlung bleibt unverändert, die Ärzteschaft kann sich auf die Behandlungsqualität fokussieren.

Gleichwohl ist im Auge zu behalten, dass diese Verträge nicht zu einer Überkompensation des Einnahmewegfalls aus dem entfallenen Vertriebswegs führen. Zum einen wurden seit 2013 verschiedene Zusatzentgelte für die Vergütung der Behandlung in der Hämophilie geschaffen. Zum anderen bietet auch die ambulante spezialfachärztliche Versorgung bei Hämophilie nach § 116b Absatz 1 Nummer 2c SGB V eine Möglichkeit, extrabudgetäre Vergütungen abzubilden. Ist eine Leistung bereits über andere Vergütungsregelungen abgedeckt, darf es nicht zu einer Doppelvergütung kommen.

Unmittelbarer Zugang der GKV zum vollen Datensatz des DHR

Auch das Deutsche Hämophilieregister (DHR) beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) wurde durch das GSAV im Interesse der Patientensicherheit an Daten im Erfassungsumfang erweitert. Das DHR erfasst bereits seit November 2009 Daten von Hämophilie-Patientinnen und Patienten in Deutschland auf freiwilliger Basis. 2017 wurde das DHR im Transfusionsgesetz auf eine gesetzliche Grundlage gestellt, eine gesetzliche Meldepflicht für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte von Patientinnen und Patienten mit angeborenen Gerinnungsstörungen an das DHR eingeführt und dem PEI die Registerführung übertragen.

Mit dem GSAV wurden neben den angeborenen auch die erworbenen Gerinnungsstörungen in die Meldepflicht aufgenommen sowie die Apotheken in die Meldewege eingebunden. Vor allem sind nun nicht nur die bisherigen blut– oder plasmabasierten Gerinnungsfaktorzubereitungen, sondern alle Arzneimittel zur spezifischen Therapie von Gerinnungsstörungen, also auch Therapien auf Antikörperbasis oder zukünftige Gentherapien, erfasst. Der Gesetzgeber verfolgt damit das Ziel, gerade auch diese neuen Therapien langfristig wissenschaftlich und datenbasiert begleiten zu können und Erkenntnisse über ihren effizienten und sicheren Einsatz zu gewinnen. Nach der Transfusionsgesetz-Meldeverordnung (TFGMV) sind auch Behandlungsdaten Teil des DHR-Datensatzes, wie diagnostische Daten zur Art und Schwere der Gerinnungsstörung, therapeutische Daten zum Auftreten, zur Behandlung einschließlich der angewendeten Arzneimittel sowie Daten zu Komplikationen und zum Verlauf von Blutungen.

Die Datensammlung des DHR steht der Fachöffentlichkeit allerdings nicht in vollem Umfang zur Verfügung, sondern ist bisher für Dritte auf Forschungsvorhaben begrenzt. Derzeit verfügen weder der Gemeinsame Bundesausschuss noch Krankenkassen oder der GKV-Spitzenverband über einen Zugang zum vollen Datensatz, obwohl der Datensatz im DHR gemäß § 21a TRansfG auch dem Zweck dienen soll, Transparenz zum Versorgungsgeschehen herzustellen. Beispielsweise wäre es für Erstattungsbetragsverhandlungen zielführend, den konkreten Faktorbedarf in der prophylaktischen Dauerbehandlung genauer zu kennen. In den öffentlichen Daten des DHR ist aber die Zuordnung von Mengen zum Therapieschema „Prophylaxe“ oder „akute Bedarfsbehandlung“ nicht möglich. Für Versorgungsanalysen im Interesse der gesetzlich versicherten Patientinnen und Patienten ist daher ein unmittelbarer Zugang zum vollen, anonymisierten Datensatz des DHR für die gesetzlichen Aufgaben der GKV erforderlich.

Weiterentwicklung des Deutschen Hämophilieregisters zu einem AbD-tauglichen Register

Darüber hinaus wäre eine Weiterentwicklung des DHR als Register für die Indikation Hämophilie im Rahmen anwendungsbegleitender Datenerhebung (AbD) wünschenswert. Ebenfalls mit dem GSAV wurde dem G-BA die Möglichkeit eingeräumt, das pharmazeutische Unternehmen zu einer AbD und Auswertung für die AMNOG-Nutzenbewertung zu verpflichten. Derzeit besteht diese Möglichkeit allerdings nur für Arzneimittel mit bedingter Zulassung oder Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen sowie für Arzneimitteln für seltene Krankheiten, wenn der Zusatznutzen nicht quantifizierbar ist.

Eine Datenerhebung für AbDs in der Hämophilie durch das DHR beim PEI wäre auf verschiedene Weisen denkbar: Zusatzerhebungsmodule - begrenzt auf bestimmte Arzneimittel bezogen – wären vorstellbar. Oder die gesamte Datenerhebung des DHR zu allen Präparaten wird um ein Zusatzmodul für nutzenbewertungsbezogene Fragestellungen ergänzt, auf das sowohl pharmazeutisches Unternehmen, G-BA und der GKV-Spitzenverband im Rahmen von Nutzenbewertungen wie Erstattungsbetragsverhandlungen unmittelbar zugreifen dürften. Um eine solide, rechtliche Basis zu schaffen, wäre es zielführend, wenn der Gesetzgeber eine Rechtsgrundlage für die Zusammenarbeit zwischen DHR, pharmazeutischem Unternehmen und G-BA schüfe. Der bisherige Meldezyklus von einmal im Jahr müsste zudem zumindest für die AbD-Nutzung dynamisiert werden.

Fazit und Ausblick: Der weitere Weg

Im Jahr 2021 wird die zweiphasige Preisneuordnung des Hämophilie-Marktes als Übergang in eine neue Versorgungsstrukturwirklichkeit abgeschlossen sein. Die Zukunft der Hämophilie-Versorgung wird maßgeblich von der Qualität verlässlicher Daten zu Sicherheit, Wirkung, Zusatznutzen und Versorgungsrealität abhängen. Bei allen Fortschritten in der Versorgung steht in der Hämophilie eine Therapie, die heilt, aus.

Die derzeitigen Hoffnungen für neue Therapiefortschritte werden auf Gentherapien gesetzt. In der Tat befinden sich bereits mehrere Gentherapien zu Hämophilie A wie B in verschiedenen Stadien der Entwicklung (Quinn et al., 2019). Eine Virus-Fähre schleust ein funktionelles Faktor VIII- Gen in die Leber ein, um dort langfristig die körpereigene Produktion des fehlenden Gerinnungsfaktors VIII zu ermöglichen. Doch kann die Therapie das Versprechen des langfristigen klinischen Effektes nachweislich und langfristig erfüllen? Hieran scheiterte bisher der Zulassungsantrag der Gentherapie Valoctocogene roxaparvovec (Roctavian®) zur Behandlung von erwachsenen Patientinnen und Patienten mit Hämophilie A – sowohl in den USA als auch in der EU. Die Zulassungsbehörde der USA lehnte den Zulassungsantrag ab und forderte die Vorlage von substantiellen Nachweisen für eine dauerhafte Wirkung auf der Grundlage einer zweijährigen Nachbeobachtung bei allen Teilnehmenden der Studie. Der Zulassungsantrag bei der EMA wurde aus Nachweisgründen vom Unternehmen im November 2020 zurückgezogen. Eine Neueinreichung bei FDA und EMA ist für 2021 angekündigt.

Auch in der Nutzenbewertung werden die neuen Therapien sich an ihrem tatsächlich nachweisbaren Nutze messen lassen müssen. Die Nachweislast auch für einen therapeutischen Zusatznutzen liegt beim pharmazeutischen Unternehmen. Hierfür wäre es gerade bei Therapien mit unsicheren oder unreifen Daten notwendig, dass bereits ab dem ersten Tag des Inverkehrbringens und der Anwendbarkeit an Patientinnen und Patienten Versorgungsdaten in ein Register eingespeist werden, deren Datenerfassung den Patientennutzen in allen relevanten Dimensionen, insbesondere die Nachhaltigkeit der Therapie, messen. Schließlich wird nur auf Basis umfassender Datensammlungen zu klären sein, welche kurz- und langfristigen Nebenwirkungen mit der Gentherapie zu erwarten sind und ob eine weitere Therapierunde mit derselben oder einer anderen Gentherapie erfolgversprechend ist. Auch die Wirkung simultaner und sequentieller Kombinationen der Gentherapie mit der üblichen Ersatztherapie kann so erfasst und bewertet werden.

Zugleich wird gerade derzeit auf europäischer Ebene die Idee des gemeinsamen europäischen Datenraums diskutiert. Diese Debatte thematisiert auch die Frage ungehinderter Datenflüsse zwischen öffentlicher Hand und Unternehmen. Insofern wäre zu überlegen, ob im Interesse einer vollständigen Bewertung des Versorgungsgeschehens in der Hämophilie freiwillig gespendete Patientendaten aus App-basierten Dokumentationen von Patientinnen und Patienten nicht ebenfalls im DHR-Register zusammengeführt und zur Verfügung gestellt werden sollten.

Literaturverzeichnis

Bidlingmaier/Olivieri/Kurnik, Hämophilie – Erfolgsgeschichte mit Hindernissen, 2007 – link: hj07_1.pdf (haunerjournal.de)

Jones, The early history of haemophilia treatment: a personal perspective, British Journal of Hae-matology, 111, 2000, 719 ff - link: The early history of haemophilia treatment: a personal perspective - Jones - 2000 - British Journal of Haematology - Wiley Online Library

Schramm, The history of haemophilia, Thrombosis Research, Volume 134, Supplement 1, November 2014, p. S4; link: The history of haemophilia – a short review - ScienceDirect

Quinn/Young/Thomas/Trusheim, Estimating the Clinical Pipeline of Cell and Gene Therapies and Their Potential Economic Impact on the US Healthcare System, Value in Health, Volume 22, Issue 6, 2019, S. 621-626 – link: Estimating the Clinical Pipeline of Cell and Gene Therapies and Their Potential Economic Impact on the US Healthcare System - ScienceDirect

Wight/Paisley, The epidemiology of inhibitors in haemophilia A: a systematic review, Haemophilia, Volume 9, Issue 4, July 2003, S. 418 – link: The epidemiology of inhibitors in haemophilia A: a systematic review - Wight - 2003 - Haemophilia - Wiley Online Library

Gesetzesmaterialien:

Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, Bundestags-Drucksache 4/1370, S. 8 – kurz: 2. AMGÄndG 1963 – link: 0401370.pdf (bundestag.de)

Erste Beschlußempfehlung und Zwischenbericht des 3. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes vom 31.01.94, Bundestagsdrucksache 12/6048 — Bundestagsdrucksache 12/6700 – kurz: UA Blutprodukte, Zwischenbericht, 1994

Zweite Beschlußempfehlung und Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes vom 25.10.94, Bundestagsdrucksache 12/8591 - kurz: UA Blutprodukte, Schlussbericht, 1994

Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Transfusionswesens, BT-Drs. 13/9594 – kurz: Transfusionsgesetz oder TFG 1998 – link: 1309594.pdf (bundestag.de)

Ergänzung zum Gutachten 2000/2001 (Bände I bis III) des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen - Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit - Zur Steigerung von Effizienz und Effektivität der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Bundestagsdrucksache 14/8205 - kurz: SV Gutachten-Add Wirtschaftlichkeit 2000/2001 – link: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/082/1408205.pdf

Über die Autorin

Susanne Henck

Susanne Henck, die Autorin des Artikels

Susanne Henck ist Fachreferentin im Referat AMNOG der Abteilung Arznei- und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband in Berlin.

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