Jubiläum

Autorenbeitrag von Klaus Kirschner,
Errichtungsbeauftragter des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen vom 1. April bis 30. Juni 2007

Die Errichtung des GKV-Spitzenverbandes

Dezember 2017

Mit dem im Februar 2007 von der damaligen Großen Koalition beschlossenen „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz“ wurde sowohl die Finanzierungsarchitektur als auch die institutionelle Ordnung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf eine völlig neue Basis gestellt. Ein wichtiges Element des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes war die Gründung des GKV-Spitzenverbandes als neuer Gestalter im Gesundheitswesen.

Inhalt

Gründung des GKV-Spitzenverbandes in gesundheitspolitisch bewegter Zeit

Nach einem langwierigen und konfliktreichen Gesetzgebungsverfahren, beginnend mit den „Eckpunkten zu einer Gesundheitsreform 2006“, wurde das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz im Deutschen Bundestag am 2. Februar 2007 in zweiter und dritter Lesung verabschiedet. Vierzehn Tage später passierte das Gesetz ohne weitere Änderungen den Bundesrat. Im Zentrum des Gesetzes stand der Gesundheitsfonds, der als Grundidee von Anfang an Konsens zwischen den Koalitionären war. Danach sollte künftig der Gesetzgeber und nicht mehr die Selbstverwaltung bzw. der Verwaltungsrat der einzelnen Krankenkasse den bedarfsdeckenden allgemeinen Beitragssatz festsetzen. Der Gesetzgeber hat sich hier für eine sehr zentralistische Regulierung entschieden: So wurde mit dem neugeschaffenen Gesundheitsfonds mit Wirkung zum 1. Januar 2009 erstmals in der 125-jährigen Geschichte der GKV ein allgemeiner, einheitlicher Beitragssatz für alle gesetzlichen Krankenkassen festgelegt. Die Selbstverwaltung der Krankenkassen verlor somit ihr „Königsrecht“, die Beitragssatzautonomie. Mit dem Gesundheitsfonds einhergehend wurden u. a. auch der Arbeitnehmer-Zusatzbeitrag für Krankenkassen sowie der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich eingeführt. Für die Verbände der Krankenkassen auf Bundesebene war jedoch eine andere Regelung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes organisationspolitisch noch bedeutsamer: Im Rahmen der organisationsrechtlichen Änderungen nahm zum 1. Juli 2008 der neu geschaffene Spitzenverband Bund der Krankenkassen seine Arbeit als Verband der Krankenkassen auf.

Die Errichtungsphase des GKV-Spitzenverbandes

Die Regelungen zur Errichtung des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen traten zum 1. April 2008 in Kraft. Der faktische Startschuss hierfür fiel aber bereits am 20. Februar 2007. Obwohl für die Ernennung eines Errichtungsbeauftragten laut Gesetz bis Ende April 2007 Zeit war, bestellte die damalige Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen bereits zu diesem Zeitpunkt den Errichtungsbeauftragten des zu gründenden Spitzenverbandes. Seine Kernaufgaben bestanden darin, den neuen Spitzenverband bei der Organisation seiner konstituierenden Mitgliederversammlung, der Ausarbeitung der Satzung sowie den Wahlen des Verwaltungsrates und Vorstandes zu unterstützen. Mit der Bildung eines Errichtungsbeirates aus haupt- und ehrenamtlichen Mitgliedern der damaligen Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen wurde eine entscheidende Schnittstelle zur Begleitung des Errichtungsprozesses geschaffen und gleichzeitig der Informationsfluss zu den Krankenkassen sichergestellt. Eine weitere wichtige Entscheidung war die Berufung von Rechtsanwalt Werner Nicolay als juristischer Berater des Errichtungsbeauftragten. Bemerkenswert war, dass diejenigen, die ihre gesetzlich zugewiesenen Aufgaben und ihren Status an den neu zu errichtenden GKV-Spitzenverband abtreten mussten, die Errichtung konsequent und professionell vorantrieben. So unterstützten die Verbände der Krankenkassen auf Bundesebene beispielsweise den Errichtungsbeauftragen mit der Abordnung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und stellten Büroräume zur Verfügung. Bereits am 19. März 2007 nahm das Errichtungsteam des Beauftragten seine Arbeit auf.

Bemerkenswert war, dass diejenigen, die ihre gesetzlich zugewiesenen Aufgaben und ihren Status an den neu zu errichtenden GKV-Spitzenverband abtreten mussten, die Errichtung konsequent und professionell vorantrieben.

Das vom Gesetzgeber vorgegebene Zeitfenster für die Gründung des GKV-Spitzenverbandes war äußerst knapp bemessen, so sollte die Wahl des Vorstandes bereits zum 1. Juli 2007 erfolgen. Für den Errichtungsprozess standen damit nur drei Monate zur Verfügung. In diesem Zeitraum mussten die gesetzlich vorgesehenen Organe, die Mitgliederversammlung, der Verwaltungsrat und der Vorstand in einem transparenten und rechtssicheren Verfahren gebildet werden. Zudem galt es, eine Wahlordnung, die Satzung sowie die Geschäftsordnungen der konstituierenden Mitgliederversammlung und des Verwaltungsrates zu entwerfen. Eine weitere wichtige Aufgabe war die Finanzplanung für die Jahre 2007 und 2008 und in Eckwerten bereits bis zum Jahr 2011.

Klaus Kirschner und die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der Pressekonferenz im Rahmen der konstituierenden Mitgliederversammlung

Klaus Kirschner und die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der Pressekonferenz im Rahmen der konstituierenden Mitgliederversammlung

Die konstituierende Mitgliederversammlung fand am 21. Mai 2007 statt. Zum Vorsitzenden der Mitgliederversammlung wählten die 482 Delegierten Richard Feichtner (damals AOK Rheinland Pfalz, heute AOK Rheinland-Pfalz/Saarland) als Vertreter der Versicherten und zu seinem Stellvertreter Dr. Horst-Dieter Projahn (damals AOK Westfalen-Lippe, heute AOK NordWest) als Vertreter der Arbeitgeberseite. Die Herausforderung bestand darin, die ordnungsgemäße Einladung und Akkreditierung von jeweils zwei Delegierten der zum damaligen Zeitpunkt 241 Krankenkassen sowie die Versammlung selbst und die verschiedenen Wahlhandlungen zu organisieren. Mit dem reibungslosen Ablauf der Mitgliederversammlung war der erste entscheidende Schritt zur Bildung einer neuen Körperschaft öffentlichen Rechts getan. Bereits am 29. Mai 2007 konnte die konstituierende Sitzung des Verwaltungsrates stattfinden und damit weitere Entscheidungen vorbereitet werden. Zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates wurde der Arbeitgebervertreter Dr. Volker Hansen (damals AOK Brandenburg, heute AOK Nordost) gewählt. Zum alternierenden Vorsitzenden wählte der Verwaltungsrat als Versichertenvertreter Willi Budde (damals BKK Mannesmann, heute VIACTIV Krankenkasse).

Klaus Kirschner und sein juristischer Berater Werner Nicolay

Klaus Kirschner und sein juristischer Berater Werner Nicolay

Wichtige Eckpunkte - u. a. Verpflichtung zur Information und Transparenz gegenüber den Mitgliedskassen, Regelungen über Fachausschüsse des Verwaltungsrates, Bildung eines Fachbeirates sowie sachgerechte Finanzierungsregelung - wurden in der Folge finalisiert. Bereits mit der dritten Sitzung des Verwaltungsrates am 18. Juni 2007 konnte die Satzung des GKV-Spitzenverbandes beschlossen und Dr. Doris Pfeiffer zum ersten Mitglied des Vorstandes gewählt werden. Was wenige Jahre zuvor noch undenkbar war, ist damit gelungen: In einer pluralistisch organisierten gesetzlichen Krankenversicherung wurde ein kassenartenübergreifendes Gremium etabliert. Mit der Aufnahme der Vorstandstätigkeit von Dr. Doris Pfeiffer am 1. Juli 2007 war der GKV-Spitzenverband erfolgreich gegründet und damit die Aufgabe des Errichtungsbeauftragten und seines Errichtungsteams beendet.

Von der Kostendämpfungspolitik zu tiefgreifenden Strukturreformen

Die Organisationsreform zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV aus dem Jahre 2007 ist im Kontext der früheren Entwicklungen und Reformen zu betrachten. Bis in die 1990er-Jahre reagierte die Regierungspolitik auf die veränderten medizinisch-technologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen einerseits, indem sie den Leistungskatalog einschränkte und die Zuzahlungen ausweitete (zu Lasten der Patientinnen und Patienten), die Beiträge erhöhte (zu Lasten der Beitragszahlenden) und andererseits durch Budgetierung in den Kollektivverträgen (zu Gunsten der Beitragszahlenden). Ein wesentliches Ergebnis dieser Aktivitäten bestand darin, dass der Anteil der Ausgaben der GKV am Bruttoinlandsprodukt relativ stabil gehalten werden sollte.

Die spätere Vorstandsvorsitzende Dr. Doris Pfeiffer im Publikum der Mitgliederversammlung

Im Publikum: die spätere Vorstandsvorsitzende Dr. Doris Pfeiffer

Eine erste tiefergreifende gesundheitspolitische Strukturreform, die nicht primär an der Kostenentwicklung ansetzte, war das Gesundheitsstrukturgesetz aus dem Jahr 1992, das Empfehlungen der Bundesstags-Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestags „Strukturreform der Gesetzlichen Krankenversicherung“ aufnahm. Dieses Reformgesetz setzte über den Wettbewerb der Krankenkassen einen evolutionären Konzentrationsprozess in der GKV in Gang. Mit der hier verankerten wettbewerblichen Grundorientierung der GKV, die u. a. die Wahlfreiheit aller Versicherten und den Risikostrukturausgleich einführte, wurden die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen festgelegt. Die Gründung des GKV-Spitzenverbandes und das Ermöglichen von kassenartenübergreifenden Vereinigungen sind eine Weiterentwicklung dieses Prinzips.

Waren es Anfang der 1990er-Jahre noch über 1.000 gesetzliche Krankenkassen, so reduzierte sich die Zahl Ende der 2000er-Jahre auf etwas mehr als 200. Zum Jahresbeginn 2017 waren es noch 113 Krankenkassen. Außerdem wurden die Konturen der Kassenarten immer stärker verwischt. Die Organisationsreform im Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV hat damit die bereits mit dem Gesundheitsstrukturgesetz angelegten Konsequenzen gezogen und ist insoweit eine Weiterführung der dort gefundenen Ansätze.

Diskussion um Organisationsstrukturen und Finanzierungsarchitektur der GKV geht weiter

Der Gesetzgeber beabsichtigte mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vor allem, den Preiswettbewerb über den allgemeinen Beitragssatz zu minimieren und mit dem Zusatzbeitrag ein ausbaufähiges Finanzierungs- und Wettbewerbsinstrument zu etablieren. Gleichzeitig sollten die Risikostrukturen zwischen den Krankenkassen ausgeglichen und das gegliederte Krankenkassensystem überwunden werden. Mit dem GKV-Spitzenverband sollte zudem die Verbändelandschaft der Krankenkassen auf Bundesebene gestrafft werden. Die Ergebnisse des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes sind ambivalent zu beurteilen. Mit dem mittlerweile von einer Pauschale zu einem Zusatzbeitragssatz weiterentwickelten Zusatzbeitrag steht ein Finanzierungsinstrument zur Verfügung, das Wettbewerbswirkung entfaltet, andererseits wird über die Zukunft des vom Versicherten alleine zu tragenden Zusatzbeitrages politisch heftig gestritten. Kritiker bemängeln neben der einseitigen finanziellen Belastung der Versicherten die hiermit verbundene Fokussierung auf einen Preiswettbewerb, bei dem der Wettbewerb um die Gestaltung einer optimierten, qualitätsgesicherten Versorgung zu kurz komme. Für ein weiteres Ziel des damaligen Gesetzes gilt Ähnliches: So hat es zwar mittlerweile zahlreiche kassenartenübergreifende Krankenkassenfusionen gegeben, dennoch spielen Kassenarten und Kassenartendenken weiterhin eine Rolle. Dies wird besonders deutlich bei Themen der wettbewerblichen Ausrichtung der gesetzlichen Krankenkassen. Ein aktuelles Beispiel ist die Lagerbildung von Krankenkassen und Kassenarten mit Lösungsoptionen zur Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs.

Es war ein richtiger und wichtiger Schritt, eine stärker wettbewerblich ausgerichtete gesetzliche Krankenversicherung zu schaffen.

Aus meiner langjährigen Sicht auf die Entwicklung unseres Gesundheitswesens heraus ist es mir wichtig, noch auf das Folgende hinzuweisen: Es war ein richtiger und wichtiger Schritt, eine stärker wettbewerblich ausgerichtete gesetzliche Krankenversicherung zu schaffen. Mit dem Wettbewerb der Krankenkassen um Mitglieder werden die miteinander korrespondierenden Ziele verfolgt, erstens eine zweckmäßige, wirtschaftliche, qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für alle Versicherten anzustreben, und zweitens Anreize für Versicherten- und Patientenorientierung sowie allokative Effizienz der Krankenkassen zu setzen. Das zeigen bspw. die Selektivverträge und die Arzneimittelpreisverhandlungen. Wichtig festzustellen ist dabei allerdings auch, dass Krankenkassen zwar mit Hilfe der Wettbewerbsinstrumente unternehmerisch handeln können und sollen. Sie sind jedoch keine klassischen Unternehmen, sondern Sozialversicherungsträger, die als mittelbare Staatsverwaltung im Auftrag des Gesetzgebers handeln und damit ihre Aufgaben im Rahmen des Sozialgesetzbuches zu erfüllen haben. Das bedeutet für mich im Übrigen auch, dass es in der gesetzlichen Krankenversicherung um Versicherte und nicht um Kunden geht. Was jetzt dringend ansteht, ist die Stärkung der Allgemeinmedizin, mit konkreten Praxiskonzepten, die sich an den Bedarfen vor Ort orientieren, d. h. eine Bedarfsplanung nach Sozial- und Morbiditätsstruktur.

Die Errichtung des GKV-Spitzenverbandes im zeitlichen Überblick

Der GKV-Spitzenverband hat sich als wichtiger Stabilitätsfaktor für die GKV etabliert

Ohne Zweifel ist die Bildung und die nunmehr zehnjährige Arbeit des GKV-Spitzenverbandes eine Erfolgsgeschichte. Dies ist umso bemerkenswerter, als der GKV-Spitzenverband aus dem Stand heraus sämtliche gesetzlichen Aufgaben, die bis zum 30. Juni 2008 einheitlich und gemeinsam von den Verbänden der Krankenkassen auf Bundesebene wahrgenommen wurden, übernommen hat. Zum damaligen Zeitpunkt zählte er rund 160 Aufgaben. Gleichzeitig mussten mit dem Wandel der Akteure neue Aufgaben angegangen werden: So hatte der GKV-Spitzenverband z. B. von Beginn an als Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung eine Reform der ambulanten ärztlichen Vergütung mit der Übertragung des Morbiditätsrisikos auf die Krankenkassen zu managen. Später kamen so gewichtige Aufgaben wie ein Finanzcontrolling mit einem Frühwarnsystem für die Krankenkassen oder auch die Erstattungspreisverhandlungen für neue Arzneimittel mit pharmazeutischen Unternehmen dazu, um nur zwei zu nennen. Der GKV-Spitzenverband nimmt seine Aufgaben bei der Gestaltung der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung, bei der Interessenvertretung von Patientinnen und Patienten, Beitragszahlenden und Krankenkassen sowie auf dem für versorgungspolitische Steuerungsfragen nicht zu unterschätzenden Feld des Finanz- und Datenmanagements äußerst erfolgreich wahr. Er ist heute ein etablierter und geachteter Player im Gesundheitswesen. Wichtig hervorzuheben ist: Er ist das auch als Spitzenverband der Pflegekassen. Der GKV-Spitzenverband ist gerade auch in turbulenten Zeiten der Veränderung zu einem der wichtigsten Stabilitätsfaktoren des deutschen Gesundheitssystems geworden.

Über den Autoren

Klaus Kirschner

Klaus Kirschner, Errichtungsbeauftragter des GKV-Spitzenverbandes

Der SPD-Politiker war fast 30 Jahre lang Mitglied des Deutsches Bundestages mit Schwerpunkt auf der Sozialpolitik, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung. So war er u. a. Vorsitzender der Bundestags-Enquete Kommission "Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung", gesundheitspolitischer Sprecher und Vorsitzender des Gesundheitsausschusses.
2007 wurde er von der damaligen Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Errichtungsbeauftragten des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen bestellt.
Heute ist Kirschner Vorstand der Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte und stellvertretendes unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses.

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